Psychologie

Hochsensibilität - Wenn sich die Welt ein wenig intensiver anfühlt

Es gibt Menschen, für die die Welt sich anfühlt wie ein besonders fein eingestelltes Mikrofon: Sie hören mehr Zwischentöne, sehen mehr Nuancen, spüren mehr Schwingungen als andere. Fast ein Fünftel der Bevölkerung besitzt diese feinere Wahrnehmungsantenne, die wir Hochsensibilität nennen. Doch Hochsensibilität bedeutet nicht nur Empfindsamkeit — sie bedeutet Tiefe. Es ist, als würde man im Leben nicht mit einem Standardradio unterwegs sein, sondern mit einem Gerät, das selbst schwache Signale empfängt. Man hört die Melodie deutlicher, aber eben auch das Rauschen.

Kindheit – Wenn die Welt zu groß, zu bunt, zu laut erscheint

Viele hochsensible Menschen erinnern sich an ihre Kindheit wie an einen Marktplatz: eine faszinierende Sammlung von Eindrücken, Geräuschen, Bewegungen — aber manchmal schlicht zu viel. Für ein hochsensibles Kind kann sich ein Schultag anfühlen, als wäre man durch einen Sturm gelaufen, während andere nur einen frischen Wind gespürt haben. Es sind Kinder, die leise beobachten, bevor sie handeln. Kinder, die Details wahrnehmen, die anderen entgehen: das angespannte Lächeln einer Lehrerin, die Unruhe eines Klassenkameraden, das Flackern einer Neonröhre, das andere nicht einmal bemerken. Sie denken viel und tief. Ein Satz, der andere nur kurz berührt, hallt in ihnen nach wie ein Klang, der langsam verklingt.

Wie man Hochsensibilität bei Kindern erkennen kann

Von außen wirkt ein hochsensibles Kind oft:

  • achtsam, beobachtend, eher ruhig

  • leicht überstimuliert, wenn es zu laut, zu chaotisch oder zu viel wird

  • perfektionistisch oder sehr gewissenhaft

  • empathisch, spürt Stimmungen anderer sofort

  • nachdenklich, manchmal „älter als sein Alter“

Manchmal wirken sie schüchtern, manchmal vorsichtig — doch eigentlich wägen sie tief im Inneren ab, was andere gar nicht bemerken.

Jugend – Der Seismograph unter Gleichaltrigen

In der Pubertät, wenn Gefühle bei allen Jugendlichen hochschlagen, wird die Welt für Hochsensible besonders intensiv. Sie sind Seismographen in einer Zeit voller Erdbeben — sie spüren Stimmungen früher als andere, feinste Veränderungen im Freundeskreis, Spannungen in Familien, unterschwellige Botschaften in Gruppen. Während viele Gleichaltrige Leichtigkeit suchen, suchen Hochsensible Tiefe: echte Verbundenheit statt flüchtiger Kontakte. Sie stellen sich Fragen, die andere erst Jahre später stellen. Manchmal fühlen sie sich wie Orchideen zwischen Sonnenblumen: nicht schwächer, nur anders, fein abgestimmt, intensiver abhängig von ihrer Umgebung und außergewöhnlich, wenn die Bedingungen stimmen.

Woran man Hochsensibilität in der Jugend oft erkennt

Jugendliche mit hoher Sensibilität sind häufig:

  • stark empathisch, oft die „Anlaufstelle“ für Freunde

  • konfliktsensibel, vermeiden unnötige Dramen

  • überfordert von zu viel sozialer Interaktion, brauchen Auszeiten

  • reflektiert, oft erstaunlich tiefgründig

  • verletzlicher, weil Kritik intensiver verarbeitet wird

Ihr Innenleben gleicht einem tiefen Meer: An der Oberfläche tobt vielleicht nur eine leichte Welle, doch in der Tiefe bewegt sich viel.

Erwachsenenalter – Wenn das feine Radio weiterklingt

Im Erwachsenenalter wird die akute Sensibilität nicht weniger — aber sie wird bewusster. Hochsensible Erwachsene wählen ihre Umgebung mit Bedacht. Sie mögen Arbeitsplätze, an denen sie denken dürfen, statt dauernd unterbrochen zu werden. Sie bevorzugen Beziehungen, die ehrlich, respektvoll und tiefergehend sind. Oberflächliche Kontakte fühlen sich für viele an wie lauwarmes Wasser: nicht schädlich, aber nicht nährend. Viele von ihnen geraten in Berufe, in denen ihre Wahrnehmung ein Vorteil ist: Coaching, Therapie, Führung, Kreativberufe, Wissenschaft, Sozialarbeit, IT. Die genaue Beobachtungsgabe, die emotionale Resonanz, die Fähigkeit, Muster zu erkennen, ist in vielen Bereichen Gold wert. Doch gleichzeitig zahlen sie bei zu viel Stress schnell einen Preis: Reizüberflutung, Erschöpfung, Burn-out-Neigung. Ein überfülltes Großraumbüro kann für sie das sein, was ein lauter Motor für jemanden mit empfindlichen Ohren wäre: ein ständiges Grundrauschen, das Energie zieht.

Woran man Hochsensibilität bei Erwachsenen erkennen kann

Hochsensible wirken oft:

  • aufmerksam, reflektiert, detailorientiert

  • authentisch, sie hassen leere Floskeln

  • loyal, manchmal über ihre Grenzen hinaus

  • stimmungssensibel, sie spüren Konflikte ohne Worte

  • gereizt oder erschöpft, wenn zu viele Reize gleichzeitig auf sie einwirken

Sie haben ein ausgeprägtes Radar für Zwischentöne — ein Radio, das Signale empfängt, die anderen entgehen.

Familiengründung – Zwischen Hingabe und Überforderung

Wenn Hochsensible selbst Eltern werden, beginnt ein neuer, intensiver Lebensabschnitt. Kinderlachen, nächtliches Weinen, alltägliches Chaos — für viele Hochsensible ist das wie ein Feuerwerk aus Emotionen: berührend, überwältigend, erfüllend, aber manchmal eben auch zu viel. Sie spüren jede Stimmung ihres Kindes, als wäre sie ihre eigene. Sie bemerken winzige Veränderungen: den leicht veränderten Tonfall, die Müdigkeit in den Augen, ein ungewohntes Verhalten. Ihre Fürsorge ist oft tief und intuitiv. Und zugleich fällt es ihnen schwer, abzuschalten. Ihr Nervensystem bleibt länger aktiv, ihre Gedanken arbeiten weiter, wenn das Kind längst schläft. Viele erleben sich auf einem Drahtseil zwischen Erschöpfung und emotionaler Intensität. Doch wenn sie lernen, ihre Grenzen zu schützen, entsteht ein besonderer Elternstil: warm, achtsam, liebevoll verbunden.

Die sichtbaren und unsichtbaren Spuren der Sensibilität

Zahlen helfen, die innere Welt objektiver zu betrachten: 15–20 % der Menschen sind hochsensibel — Männer und Frauen etwa gleich häufig. Es gibt deutliche Hinweise auf eine genetische Komponente, doch die Umgebung entscheidet, ob diese Sensibilität zur Stärke wird oder zur Belastung.

Hochsensible tragen oft die Tugenden, die man in einer lauten Welt zu selten findet:

  • Empathie

  • Kreativität

  • Tiefes Denken

  • Feinfühligkeit

  • Ein Gespür für Details

  • Wertorientierte Entscheidungen

Sie sind die Menschen, die zwischen den Zeilen lesen. Die die Welt nicht nur sehen, sondern fühlen. Die nicht nur reagieren, sondern verarbeiten. Die manchmal zu viel spüren — und doch unendlich viel geben können.

Fazit – Hochsensibilität ist keine Schwäche. Sie ist eine Kunst.

Hochsensibilität bedeutet nicht, dünnhäutig zu sein. Es bedeutet vielmehr, durchlässiger zu sein für die Welt. Tiefe statt Fläche, Resonanz statt Gleichgültigkeit, Wahrnehmung statt Abwehr. Hochsensible Menschen sind wie fein gestimmte Instrumente: Sie klingen reich und warm, wenn man sie respektvoll behandelt, und verstummen oder verzerren, wenn sie überfordert werden. In einer passenden Umgebung entfalten sie eine Schönheit, die kraftvoll und besonders ist. Sie sind Menschen, die mehr hören, mehr fühlen, mehr denken — nicht weil sie müssen, sondern weil sie es schlicht nicht anders können. Und genau darin liegt ihre Stärke.

Mit diesem Artikel zu Hochsensibilität beende ich nun meine Serie rund um das Thema Neurodiversität. Ich hoffe, es ist mir gelungen, euch in andere Welten mitzunehmen und ein wenig Werbung für wirkliche Vielfalt zu machen. Ich erinnere mich noch an meine NLP-Ausbildung, in der wir immer wieder darüber gesprochen haben, dass nicht das Verhalten hilfreich oder hinderlich ist, sondern dass die Umwelt, das Umfeld definiert, wie Verhalten bewertet wird. Ich gebe den Traum nicht auf, dass wir alle das Umfeld finden, in dem unser Verhalten, unsere Persönlichkeit ganz und gar als hilfreich betrachtet wird.

Wie immer freue ich mich auf euer Feedback und möchte mich gleichzeitig für die vielen Nachrichten in den letzten drei Monaten bedanken. Auch sie haben mich durch diese kleine Serie getragen.

Keine Sorge, mein Blog geht natürlich weiter. Und vielleicht habt ihr ja Wünsche, womit genau!

Eure Constance

Hochsensibel

Wenn die Welt ein wenig lauter klingt

Psychosen - Wenn die Seele die gelb-rote Karte zeigt

Psychosen – Das große Tabu?

Ich habe seit dem Amoklauf in Mannheim überlegt, ob ich mir für diesen Blog nicht lieber ein anderes Thema suchen sollte. Schon vor zwei Wochen, als ich mich mit dem Thema psychisches Trauma bzw. Traumatherapie beschäftigt habe, habe ich mir vorgenommen, im nächsten Artikel mit dem Thema Psychosen daran anzuknüpfen. Ich habe mich entschieden, mich trotz Mannheim mit dem Thema Psychosen zu beschäftigen. Nicht erst, seit ich mich in einer psychotherapeutischen Ausbildung befinde, frage ich mich wieder und wieder, warum psychische Erkrankungen ein gefühltes gesellschaftliches Tabu darstellen. Seit ich mich im Rahmen meiner Weiterbildung quasi professionell mit dem Thema psychischer Erkrankungen beschäftige, ist das Fragezeichen in meinem Kopf nur noch größer geworden. Ich bin erstaunt, wie viele von uns früher oder später an einem psychischen Krankheitsbild leiden und wie wenig darüber gesprochen wird.

Eine handfeste Psychose taucht ausgesprochen selten aus dem Nichts auf. Sie kündigt sich häufig an, und natürlich gibt es Frühwarnsymptome, über die sich in vielen Fällen gegensteuern lässt. Allerdings habe ich das Gefühl, dass diese Symptome einerseits ausgesprochen schambehaftet sind und Betroffene versuchen, die Situation auszusitzen, oder Betroffene wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen oder können. Psychotherapeutische Beratungs- und Behandlungsangebote sind in Deutschland, gemessen am Bedarf, ein rares Gut. Umso wichtiger ist es, dass wir diese Formen der Erkrankungen aus der Schmuddelecke holen und aufhören, Menschen zu stigmatisieren – mit völlig realitätsfernen Bildern von „Verrückten“ im Kopf, die man zeitlebens einsperren muss, weil sie gefährlich sind.

Etwa 3 von 100 Menschen erleben in ihrem Leben mindestens eine psychotische Episode. Diese tritt zum Beispiel im Rahmen von sogenannten affektiven Störungen auf, das heißt bei depressiven oder manischen Episoden oder deren Wechsel, den wir als bipolare Störung bezeichnen. Aber auch im Kontext einer Schizophrenie, an der etwa 1 Prozent der Weltbevölkerung leidet, oder im Zusammenhang mit Traumata und (posttraumatischen) Belastungsstörungen sowie durch den Konsum von Drogen und Alkohol oder im Kontext von Drogen- und Alkoholentzug tauchen psychotische Episoden oder Psychosen auf.

Viele Menschen erleben tatsächlich nur eine einzige psychotische Episode im Leben, während andere chronisch betroffen sind. Risikofaktoren wie genetische Veranlagung, erlittene Traumata und Drogenkonsum können das individuelle Risiko erhöhen.

Aber was ist denn eine Psychose überhaupt?

Man sagt, dass eine Psychose eine schwere psychische Störung ist, die das Denken sowie das Erleben und die Wahrnehmung der Realität beeinträchtigt. Im Kontext von Psychosen treten Wahnvorstellungen – also bizarre und unveränderbare Überzeugungen – und Wahrnehmungsstörungen wie optische oder akustische Halluzinationen (die oft benannten Stimmen oder weißen Mäuse) auf. Auch das Bewusstsein und die Selbstwahrnehmung können sich verändern.

Diese veränderte Selbstwahrnehmung äußert sich zum Beispiel über das Gefühl, dass meine Gedanken nicht mehr mir gehören: Sie werden mir zum Beispiel von außen eingegeben, jeder kann sie hören, oder sie werden aus mir herausgesaugt. Oder darüber, dass ich mich selbst fremd und sonderbar fühle oder sich meine Umwelt unwirklich und fremd anfühlt – insgesamt ein Zustand, der sicher große Angst macht.

Und woher kommt eine Psychose?

In der Literatur findet man die Aussage, dass Psychosen meist eine multifaktorielle Ursache haben. Das heißt, im Prinzip weiß man es nicht so ganz genau und geht von einer Kombination verschiedener Ursachen aus. Eine Ausnahme bilden hierbei organisch verursachte Psychosen, die zum Beispiel durch Infektionen und Entzündungen oder Vitamin- und Nährstoffmangel entstehen. Auch neurologische Erkrankungen wie Epilepsie, Demenz oder Hirnverletzungen können Psychosen auslösen – ebenso wie der Konsum oder Entzug von Drogen oder Alkohol.

Interessant ist, dass offensichtlich auch unsere Genetik eine Rolle beim Entstehen von Psychosen oder psychotischen Erkrankungen spielt. Schizophrenie hat eine deutliche genetische Komponente. Aber lange nicht bei jedem, der diese Disposition hat, bricht die Psychose auch aus.

Das führt uns zu den multifaktoriellen, „weichen“ Bedingungen: Einen deutlichen Einfluss darauf, ob es zu einer Psychose kommt oder eben nicht, hat, ob wir während der Kindheit traumatische Erlebnisse (z. B. Missbrauch, Vernachlässigung, extremer Stress) erfahren haben, aber auch im weiteren Leben (z. B. Krieg und Vertreibung). Zudem gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass Menschen mit Migrationshintergrund ein erhöhtes Risiko haben, eine Psychose zu entwickeln. Und zwar nicht, weil sie Migranten sind, sondern weil sie aufgrund ihres Migrationshintergrundes Diskriminierung und kulturellen Stress erfahren.

Gute Integration kann also vor Psychosen schützen – etwas, bei dem wir uns alle an die eigene Nase fassen können. Wie integrativ sind wir denn? Oder wann und wie neigen wir dazu, andere auszugrenzen? Denn auch soziale Isolation, Einsamkeit, Mobbing und fehlende soziale Unterstützung können psychotische Symptome begünstigen. Menschen, die in einer festen Beziehung leben und sozial eingebunden sind, haben zum Beispiel selbst bei einer so ernsthaften Erkrankung wie Schizophrenie eine deutlich günstigere Prognose als Alleinstehende.

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell

Am Ende scheint es in den meisten Fällen eine Kombination aus „weichen“ und „harten“ Faktoren zu sein, die das Entstehen einer Psychose fördern oder davor schützen. Habe ich eine genetische Disposition oder trage ich eines oder mehrere schwere Traumata mit mir herum, löst das nicht direkt eine Psychose aus. Kommt jedoch mehr und mehr Stress dazu oder konsumiere ich Drogen (vielleicht um den Stress zu betäuben), erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass ich an einer Psychose erkranke. Irgendwann läuft das Fass eben über, und die Seele zeigt die gelb-rote Karte.

Was es braucht – nicht nur mit Blick auf potenzielle psychische Erkrankungen –, ist Integration und ehrliches, wertfreies Interesse aneinander, von dem uns niemand außer wir selbst abhalten kann. “Unterschätze nie die Macht eines Ja!” Dieses Zitat von Jacinda Ardern steht momentan als Wochenmotto auf meinem Schreibtisch. Sie hat recht. Warum häufig zu kritisch, so negativ? Es geht auch positiv, ressourcenorientiert. Warum verurteilen und ausgrenzen, wenn wir auch respektieren und unterstützen können? Integration hört nicht bei physischer Barrierefreiheit oder Regenbogenfahnen auf. Sie muss ebenso selbstverständlich auf der Ebene psychischer Erkrankungen stattfinden.

Ich werde jetzt weiterlernen. Passend zu diesem Artikel stehen Psychosen an diesem Wochenende auf meinem Lernplan. Denn im therapeutischen Kontext ist eine psychotische Erkrankung nicht gleich eine psychotische Erkrankung. Es gibt zum Beispiel eine Form der akuten, körperlich bedingten Psychose – das Delir –, die es unbedingt von anderen Formen zu unterscheiden gilt, weil hier akute Lebensgefahr besteht.

Und während ich so vor mich hin lerne, bin ich wieder und wieder zutiefst fasziniert von uns Menschen, unserem Körper – in Einheit mit unserer Seele. Denn unsere Seele zeigt nicht einfach so die gelb-rote Karte, sondern unterscheidet, ob das Leben in Gefahr ist, und gibt der Psychose in diesem Fall eine leicht andere Form. Ist das Leben in Gefahr, zeigen sich zum Beispiel Halluzinationen häufig eher in optischer Form. Ist das Leben nicht in Gefahr, liefert unser Organismus uns tendenziell eher akustische Halluzinationen. Verrückt, oder?

Habt einen zauberhaften Sonntag, genießt die Sonne und achtet auf euch und eure Liebsten.

Eure Constance

Wenn die Seele die gelb-rote Karte zeigt

Psychosen und psychotische Episoden

Wie aus 80 Millionen Bundestrainer 80 Millionen Virologen wurden

Von viel Meinung und wenig Ahnung

Eigentlich wollte ich das, was man “tagesaktuell” nennt, ja aus meinem Blog raus halten, eigentlich. Denn momentan wundert sich neben mir sicher auch der ein oder andere da draußen, wie es passieren kann, dass plötzlich aus 80 Millionen Bundestrainer wahlweise 80 Millionen Virologen oder Verfassungsrechtler werden konnten. Wären die Auswirkung nicht so tragisch, dass renommierte Virologen wie Christian Drosten Morddrohungen bekämen, oder dass die vermeintliche Mitte der Gesellschaft, womöglich verkleidet als besorgte Eltern oder passionierte Verfassungsrechtler, sich mit eindeutig rechtsradikalen Verfassungsfeinden gemeinsam auf die Straße stellen, würde ich das alles ja in einer kleinen Meditation an mir vorbeiziehen lassen. Aber so, wie es ist, lässt es mich nicht mehr los.

Studierte Naturwissenschaftler, deren absolutes Spezialgebiet Coronaviren sind, werden nicht nur angefeindet, nein, viel mehr gibt es Menschen ohne jedes medizinische Hintergrundwissen, die fest davon überzeugt sind, sich mit dem Coronavirus besser aus zu kennen, als Christian Drosten und Co.! Dass die Bild-Zeitung diesen Umstand auch noch zur Steigerung der eigenen Auflage nutzt und damit wirklich niemanden außer sich selbst einen Gefallen tut, dazu möchte ich besser gar nichts sagen. Sieht man doch hier mal wieder, wie gefährlich Zeitungen sein können: eine Kakerlake überlebt einen Atomkrieg, aber mit einer Tageszeitung kann man sie tot schlagen…

“Der kleine Gott der Welt ist stets vom selben Schlag…” Mephisto

Ich möchte den Menschen gerne verstehen, aufrichtig und ehrlich. Ich möchte verstehen, warum der Mensch so ist wie er ist, wertfrei und im positivsten Sinne. Wie unterschiedliche Menschen zu unterschiedlichen Meinungen kommen, das habe ich verstanden, darüber habe ich auch wiederholt geschrieben. Meine Erkenntnisse haben dazu geführt, dass ich andere Meinungen gelernt habe wertzuschätzen und zu akzeptieren. Das fühlt sich im allgemeinen gut an. Jedoch habe ich das Gefühl, dass in Hinblick auf Corona und den damit zusammenhängenden Maßnahmen der Politik aus Meinungen Dogmen geworden sind, Dogmen ohne jede wissenschaftliche Basis. Ich würde es gerne Verschwörungstheorien nennen, allerdings haben Theorien für gewöhnlich eine (wissenschaftliche) Substanz.

OK, genug geschimpft und Dampf abgelassen. Zurück zu meinem Thema: der Mensch. Ich möchte hier auch aus tiefstem Herzen voranstellen, dass ich davon überzeugt bin, dass der Mensch an sich nicht verkehrt ist. Die Evolution hat uns schon ganz OK hervorgebracht, allerdings bringen uns vor allem Ängste dazu, sonderbare Dinge zu tun, Dinge die rational nicht immer nachvollziehbar sind. Trotzdem bin ich der Meinung, dass Ängste allein nicht erklären können, weshalb so viele Menschen momentan nicht nur ein Meinungsbild so offensiv vertreten, dass es mir manchmal weh tut, sondern auch noch wider wissenschaftlicher Beweise unbeirrbar bei ihrer Meinung und ihrem Verschwörungs-Wirrwarr bleiben.

Wissenschaft, die ein Lachen hervorzaubert

Auf meiner Suche nach Antworten bin ich tatsächlich in der Psychologie fündig geworden und das auch noch auf höchst amüsante Weise. Wer also glaubt, Wissenschaft sei langweilig, der sollte auf jeden Fall weiterlesen!

Schon mal etwas vom sogenannten Dunning-Kruger-Effekt gehört? Ich zitiere an dieser Stelle aus Wikipedia, weil es einfach köstlich ist: “Dunning-Kruger-Effekt bezeichnet als populärwissenschaftlicher Begriff die kognitive Verzerrung im Selbstbildnis inkompetenter Menschen, das eigene Wissen und Können zu überschätzen. Diese Neigung beruht auf der Unfähigkeit, sich selbst mittels Metakognition objektiv zu beurteilen. (..)”. Selten so gelacht, ehrlich, köstlich, diese Beschreibung. Wenn ich also so eingeschränkt in meinem fachlichen Wissen bin, dass ich noch nicht einmal merke, wie eingeschränkt mein Wissen ist, kann es sein, dass ich so fest in meiner Meinung festhänge, dass ich selbst ausgewiesene Experten für ahnungslos halte! Also quasi das Gegenteil von Soraktes’ “Ich weiß dass ich nichts weiß”.

Aber mal von vorne: der Dunning-Kruger-Effekt geht auf zwei Sozialpsychologen, David Dunning und Justin Kruger, der Cornell University bei New York zurück, die diesen Effekt erstmals 1999 in einer Publikation erwähnten. Im Rahmen von Studien stellten die beiden Sozialpsychologen fest, dass zum Beispiel beim Schachspielen, Autofahren oder dem Erfassen von Texten Unwissenheit oft zu deutlich mehr Selbstsicherheit führt, als Wissen. Insgesamt fassten sie ihre Forschungsergebnisse folgendermaßen zusammen: fachlich weniger kompetente Menschen (die unter Dunning-Kruger leiden, oder viel mehr sehr glücklich damit leben!) neigen dazu, ihre eigenen Fähigkeiten konsequent zu überschätzen, überlegene Fähigkeiten und tatsächliche fachliche Kompetenz bei anderen nicht zu erkennen und das Ausmaß der eigenen Inkompetenz nicht einschätzen zu können. Bahnbrechend finde ich in diesem Zusammenhang den Therapievorschlag: Bildung!

Im Laufe der Zeit wurde die Forschung hinsichtlich des Dunning-Kruger-Effekts immer weiter getrieben. Achtung, hier wird es noch ganz besonders unterhaltsam: 2001 stellten die beiden Herren nämlich fest, dass sie ihre gesamte Grundlagenforschung ausschließlich an Nordamerikanern durchgeführt haben und stellten sich deshalb die völlig berechtigte Frage, ob es hinsichtlich des Dunning-Kruger-Effekts eventuell kulturelle Unterschiede geben könnte. Aus diesem Grund führten man im Jahr 2001 eine Studie in Japan durch und kam zu dem Ergebnis, dass Japaner eher dazu tendieren, ihre Fähigkeiten zu unterschätzen und Misserfolge als Anlass nehmen, besser zu werden um so ein wertvolleres Mitglied der Gesellschaft zu werden.

Klar könnte man jetzt sagen, dass dieser Dunning-Kruger-Effekt eine Art nordamerikanische Persönlichkeitsverwirrung ist. Ich persönlich finde tatsächlich, dass der US-amerikanische Präsident ein formidables Beispiel für das fortgeschrittene Stadium dieser Erkrankung sein könnte. Aber so einfach ist es wohl auch nicht. So wurde der Dunning-Kruger-Effekt in kognitionswissenschaftlichen Publikationen benannt, die sich mit der konsequenten Leugnung der menschgemachten globalen Erwärmung beschäftigen. Ich weiß, führt uns auch wieder zu Trump, aber gibt es ja wohl auch in Deutschland. Also scheint dieses Phänomen, wissenschaftliche Erkenntnisse konsequent zu leugnen, nichts neues zu sein, allerdings scheinen die Ängste, gesundheitliche wie wirtschaftliche, die Corona hervorruft, wie ein Katalysator zu wirken. Angst ist eben einfach nicht gut für uns Menschen. Wir stellen also fest, wollen wir, dass wir selbst, oder die Menschen um uns herum gute oder sehr gute Leistungen erbringen, oder einfach nur “normal” funktionieren, müssen wir für eine angstfreie Atmosphäre sorgen. - Nur mal so am Rande!

Sind wir nicht alle ein bisschen Dunning-Kruger?

Einen kleinen abschließenden Fun Fact zu Dunning-Kruger habe ich noch im Petto: Im Jahr 2000 erhielten die Herren Dunning und Kruger für ihre Studien den Ig-Nobelpreis für Psychologie. “Ig” steht in diesem Fall für “ignorable” und diese Art Anti-Nobelpreis, vergeben an der Harvard-Universität, ist eine satirische Auszeichnung für wissenschaftliche Leistungen, die einen erstmal zu Lachen und dann zum Nachdenken bringen. Und ich finde nachdenken schadet uns allen nicht! Ich jedenfalls werde mich zukünftig vielleicht einmal fragen, ob ich nicht ein kleines bisschen Dunning-Kruger haben könnte, wenn ich mich mal wieder ganz besonders fest in eine Meinung reinmanövriert habe. Ist doch alles menschlich!

Eure Constance

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Weiß ich dass ich nichts weiß?

Oder weiß ich alles besser, weil ich nichts weiß?