Wenn der Himmel einstürzt - Anja lebt weiter

Für Anja - für alle Anjas

Resultierend aus dem vielen und vielfältigen Feedback zu meinem letzte Artikel zum Thema Suizid habe ich entschieden, dieses Thema in einem aktuellen Artikel ein weiteres Mal aufzugreifen. Dieses Mal aus der Perspektive derer, die zurück bleiben, die weiterleben, weiterleben müssen. Besonders berührt hat mich Anjas Nachricht, ihre Geschichte, die ich heute mit ihrer Zustimmung mit euch teilen darf. Danke Anja. Dieser Artikel ist für dich und für alle die, die deine Geschichte so oder ähnlich teilen.

Der Tag, an dem alles anders wurde

Anja hatte keine Worte für das, was geschah. Anja trank ihre erste Tasse Kaffee. Er duftete herrlich und sie genoss die Stille um sie herum. Die Kinder schliefen noch und ihr Mann war wie so oft sehr früh zum Sport gegangen. Es war ein Tag wie viele andere – bis zu dem Moment, als das Telefon klingelte. Oder war es ein Klopfen an der Tür? In ihrer Erinnerung verschwimmt alles. Was bleibt, ist ein Bild: ein Polizist mit ernster Miene, der sich räuspert, bevor er spricht. Und dann ist da nur noch ein Satz, der alles zum Stillstand bringt. Ihr Mann hat sich das Leben genommen. Der Himmel stürzt ein…

Anja kann sich erinnern, dass die Kinder noch fest schliefen, als sie wie gelähmt in deren Zimmer ging. Die beiden hatten damals noch ein gemeinsames Schlafzimmer. Sie hörte ihre Kinder atmen. Ein rhythmisches Ein und Aus, das so gar nicht zum Sturm in ihr passte.

Ein Teil von Anja wusste sofort, dass dieser Moment unwiderruflich war. Es war der Moment, in dem alles zerbrach – ihr Leben, ihre Ehe, ihre Hoffnung. Was ist mit den Kindern? Mit ihr? Dem Haus? Nur Fragen, keine Antworten…

 

Ein langer Kampf im Schatten der Depression

Die Depression ihres Mannes war kein Geheimnis. Anja hatte sie kommen sehen – langsam, schleichend, wie Nebel, der sich über alles legt. Zuerst waren es nur Stimmungsschwankungen, dann Rückzüge, das Vermeiden von Gesprächen, das Schweigen in Momenten, in denen sie Nähe suchte. Später kamen die schlaflosen Nächte, die Verzweiflung, die dunklen Gedanken, die Therapien.

Sie war da. Immer. Sie begleitete ihn zu Arztgesprächen, organisierte Klinikaufenthalte, war seine Stütze – auch dann, wenn sie selbst nicht mehr wusste, wie lange sie das noch aushalten konnte. Oft fragte sie sich, ob Liebe allein reicht. Ob Fürsorge, Geduld und Nähe genügen, um einen Menschen aus seiner Dunkelheit zu holen. Sie wollte daran glauben. Sie musste.

Nach dem Suizid: Zwischen Erstarrung und Funktionieren

Die ersten Tage nach dem Suizid fühlten sich an wie ein böser Traum. Anja funktionierte, irgendwie. Es gab so vieles zu tun – die formalen Dinge, die Gespräche mit den Behörden, die Organisation der Beerdigung. Und vor allem: das Gespräch mit den Kindern.

Wie erklärt man einem Kind, dass der Vater sich das Leben genommen hat? Wie spricht man über eine Entscheidung, die so endgültig ist – und so verletzend? Anja fand keine guten Worte. Sie weinte viel, auch vor den Kindern. Sie versuchte nicht, stark zu wirken. Nur ehrlich. „Papa war krank“, sagte sie. „So krank, dass er keinen anderen Ausweg mehr gesehen hat.“ Es fühlte sich falsch an, unvollständig – aber es war alles, was sie hatte. “Papa ist jetzt im Himmel und passt auf uns auf.”

 

Wut, Schuld und Sprachlosigkeit

Anja war nicht nur traurig. Sie war wütend. Auf ihn – weil er gegangen war, weil er sie und die Kinder zurückgelassen hatte. Auf sich – weil sie es nicht verhindern konnte. Auf die Ärzte – weil sie immer gesagt hatten, er sei stabil genug für den Alltag. Auf das System – das so oft an seine Grenzen stößt, wenn Menschen psychisch krank sind. Und manchmal auch auf die Freunde, die in den letzten Monaten so oft gefragt hatten: „Geht’s ihm besser?“ – als ob es eine einfache Antwort darauf gäbe.

Gleichzeitig spürte sie eine lähmende Sprachlosigkeit. In Gesprächen verstummten Menschen, wenn sie vom Tod ihres Mannes erzählte. Manche wechselten das Thema, andere machten einen großen Bogen um sie. Der Tod durch Suizid ist kein Thema, über das man leicht spricht – das wurde ihr schmerzhaft bewusst.

 

Zwischen Trauer und Erleichterung

Was Anja kaum auszusprechen wagte: Es gab Momente, in denen sie Erleichterung spürte. Nicht, weil er tot war – sondern weil der ständige Alarmzustand vorbei war. Kein stundenlanges Grübeln mehr: „Wo ist er? Geht es ihm gut? Hat er wieder einen Rückfall?“ Kein Zittern mehr, wenn das Telefon klingelte. Diese Erleichterung war kein Trost – aber sie war real. Und sie machte ihr zusätzlich Schuldgefühle.

Sie sprach darüber in einer Trauergruppe für Hinterbliebene nach Suizid. Zum ersten Mal fühlte sie sich verstanden. Da waren andere Frauen, andere Partner, erwachsene Kinder, Geschwister – alle mit einer Geschichte, die ähnlich klang. Alle mit diesem zerrissenen Gefühl zwischen Liebe, Wut, Trauer und Ohnmacht.

Ein Leben in Vorwürfen – oder in Würde?

Immer wieder fragte Anja sich: Hätte ich es verhindern können? War sie zu müde gewesen, zu unachtsam, zu spät dran mit dem richtigen Wort? Hatte sie nicht genau genug hingesehen?

Diese Fragen werden bleiben, das weiß sie. Aber sie hat gelernt, dass sie keine Antworten finden muss, um weiterleben zu dürfen. Ihr Mann war krank – und er hat eine Entscheidung getroffen, die niemand für ihn hätte abwenden können, solange er sich nicht helfen lassen wollte. Das anzunehmen, ist schwer. Aber es ist der einzige Weg, nicht selbst daran zu zerbrechen.

Heute: Reden statt Schweigen

Heute spricht Anja offen über den Suizid ihres Mannes. Nicht jeden Tag, nicht immer freiwillig – aber immer dann, wenn sie merkt, dass ihr Schweigen anderen das Gefühl geben würde, allein zu sein. Sie erzählt ihre Geschichte, weil sie weiß, dass viele sich in ihrer Lage schämen. Weil noch immer so viele Menschen glauben, Suizid sei ein Tabu.

Sie will nicht missionieren. Nur erzählen. Vielleicht Mut machen. Vielleicht einen kleinen Raum schaffen, in dem andere sagen können: „So war das bei uns auch.“

 

Der Schmerz bleibt – aber er verändert sich

Anja wird den Schmerz nie ganz loswerden. Sie lebt mit einem Loch in ihrem Leben, einem Riss in ihrer Biografie. Aber sie hat gelernt, dass dieser Schmerz sich wandeln kann. Dass aus der reinen Verzweiflung auch etwas wachsen kann – Mitgefühl, Stärke, Klarheit.

Manchmal sagt sie heute: „Ich liebe ihn noch immer. Aber ich lebe jetzt mein Leben weiter.“ Und das ist kein Widerspruch.

Anja sieht das Strahlen ihres Mannes in den Augen ihres Sohnes. Ole ist inzwischen Teenager und das Ebenbild seines Papas. Manchmal würde Anja alles geben für ein einziges gemeinsames Abendessen, so wie früher. Sie wünscht sich so sehr, dass ihr Mann Ole sehen könnte, stolz darauf sein könnte, wie ähnlich er ihm ist, wie hübsch, wie klug Ole ist. Stine, Oles kleine Schwester, kann sich kaum an ihren Papa erinnern. Anja redet oft von ihm und kämpft dafür, dass er Teil ihres Lebens bleibt, Teil des Lebens seiner Kinder. Und doch bleit Abend für Abend ein Platz leer . Noch immer, nach all den Jahren, ist es ein kleiner Stich in ihrem Herzen, wenn sie nur drei Teller aus dem Schrank holt.

Lasst uns aufeinander aufpassen, auch wenn wir, wie Anja, wissen, dass wir niemanden retten können. Aber wir können Hände reichen. Und hierbei sind wir nicht allein. Hier sind einige Anlaufstellen für euch, die in akuten Krisen ganz professionell und liebevoll unterstützen.

📞 Telefonseelsorge: 0800 111 0 111 (kostenlos, anonym, rund um die Uhr)

📞 Nummer gegen Kummer (für Kinder & Jugendliche): 116 111

🌐 www.suizidprophylaxe.de – Deutsches Bündnis gegen Depression

🌐 www.frnd.de – Freunde fürs Leben

Eure Constance