Psychische Erkrankung

ADHS bei Frauen: Wenn das Funktionieren zur Krankheit wird

Ein Zusammenbruch, der alles veränderte

Als Mira an einem Montagmorgen im März die Tür ihres Ateliers hinter sich schloss, hatte sie nicht geplant, zusammenzubrechen. Sie wollte nur kurz Luft holen. Ein paar Schritte gehen, vielleicht einen Kaffee holen, den Kopf freibekommen. Doch ihre Beine trugen sie nicht mehr. Stattdessen fand sie sich auf dem kalten Pflaster sitzend wieder – zitternd, weinend, unfähig zu verstehen, was gerade geschah.

Zwei Tage später lag sie in einem weißen Bett auf der geschlossenen Station einer psychiatrischen Klinik. Die Diagnose: schwere depressive Episode mit suizidalen Gedanken. Die eigentliche Erkenntnis über ihren Zustand kam jedoch erst Wochen später – in Form von vier Buchstaben, die ihr Leben rückblickend in völlig neuem Licht erscheinen ließen: ADHS.

Ein Leben voller Ideen – und innerer Erschöpfung

Mira war 35, als sie zum ersten Mal von einer Ärztin hörte, dass sie wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang mit einem Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom gelebt hatte – ohne es zu wissen.

„Sie sind nicht faul. Nicht undiszipliniert. Sie sind erschöpft, weil Sie seit Jahrzehnten kompensieren“, sagte die Ärztin leise, als Mira vor ihr saß, Tränen in den Augen.

Mira war Grafikdesignerin – talentiert, kreativ, erfolgreich. Ihre Kund:innen liebten ihre Ideen, ihre Energie, ihr Gespür für Ästhetik. Doch hinter der glänzenden Oberfläche tobte ein anderes Leben – eines aus Chaos, Überforderung und ständiger Selbstkritik.

Sie konnte Nächte durcharbeiten, weil sie im „Hyperfokus“ versank, und tagelang keine Mails beantworten, weil schon das Öffnen des Postfachs Panik auslöste. Termine vergaß sie, obwohl sie akribisch Listen führte. Rechnungen lagen halbfertig in Entwürfen, weil sie sich nicht überwinden konnte, sie fertigzustellen.

Von außen sah man nur: Mira, die Kreative. Mira, die Sprunghafte. Mira, die Unzuverlässige – aber auch Mira, die immer wieder irgendwie „liefert“. Die liebenswerte, herzenswarme Mira.

Drinnen jedoch wuchs der Druck – immer stärker, immer leiser.

Das Masking-Phänomen – Wenn Frauen funktionieren, bis sie es nicht mehr können

Viele Frauen mit ADHS werden oft spät oder gar nicht diagnostiziert. Das liegt nicht an mangelnder Aufmerksamkeit oder fehlender Hilfe, sondern an gesellschaftlichen Erwartungen an Mädchen, sich anzupassen, nicht aufzufallen – und daran, wie ADHS sich bei Frauen häufig anders zeigt als bei Männern. Während bei Jungen die Hyperaktivität auffällt – das Zappeln, das Stören, das „Nicht-still-sitzen-Können“ – zeigt sich ADHS bei Mädchen oft verdeckter: als innere Unruhe, Perfektionismus, emotionale Überflutung. Viele entwickeln früh Strategien, um nicht aufzufallen. Sie funktionieren. Sie gleichen aus. Sie „machen“ – und genau dieses permanente „Machen“ wird später zum Verhängnis. Psycholog:innen sprechen hier vom sogenannten „Masking-Phänomen“: Frauen mit unerkannter ADHS bauen sich über Jahre aufwendige Strukturen, Routinen und Masken, um nicht aufzufallen. Sie übernehmen Verantwortung, organisieren, überkompensieren. Bis der Akku leer ist – und die Fassade bricht.

Bei Mira geschah das schleichend. Erst waren es kleine Dinge: vergessene Deadlines, ständige Müdigkeit, Reizbarkeit. Dann kamen die Selbstzweifel: Warum schaffe ich nicht, was andere scheinbar mühelos hinbekommen? Schließlich folgten die Nächte, in denen sie starr im Bett lag und sich fragte, ob das alles noch Sinn ergibt.

Wenn die Komorbiditäten übernehmen

ADHS kommt selten allein. Vor allem bei spät diagnostizierten Menschen sind Komorbiditäten – also begleitende psychische Erkrankungen – eher die Regel als die Ausnahme.

Mira litt unter einer Depression, die immer wieder aufflammte, wenn der Druck zu groß wurde. Dazu kam eine heimliche Alkoholsucht, die sie sich lange nicht eingestehen wollte. Abends, nach stundenlangen Projekten und überreizten Tagen, war das Glas Wein die einzige Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen. Dann zwei. Dann drei.

„Ich wollte nur das Chaos im Kopf leiser machen“, sagte sie später.

Diese selbstmedikative Suche nach Entlastung ist bei ADHS-Betroffenen weit verbreitet – und gefährlich. Der Mangel an Dopamin, der das Belohnungssystem im Gehirn beeinflusst, führt oft dazu, dass Betroffene nach schnellen Reizen oder Entspannung durch Substanzen suchen: Alkohol, Nikotin, Essen, Arbeit, Sex, Social Media.

In Miras Fall wurde der Alkohol zum Symptom einer tieferen Not – eines Lebens, das permanent zu viel forderte und gleichzeitig zu wenig Verständnis bekam.

Der Zusammenbruch – und der Anfang eines neuen Lebens

Der Zusammenbruch im März war kein Ergebnis einer besonders anstrengenden Phase, sondern das Ende einer langen Entwicklung. Mira hatte seit Monaten nicht mehr richtig geschlafen, viel zu wenig gegessen, kaum noch gearbeitet. Die Depression war zur Leere geworden, der Alkohol zum stummen Begleiter.

Als sie schließlich auf der Station ankam, fühlte sie nur Erleichterung: Endlich nichts mehr müssen.

Die Diagnose ADHS kam erst nach mehreren Wochen.

Eine junge Psychotherapeutin hatte aufmerksam zugehört, als Mira von ihrer Schulzeit erzählte – von Lehrerkommentaren („Sie ist so begabt, aber sie könnte sich mehr anstrengen“), von verlegten Schlüsseln, chaotischen Schreibtischen, impulsiven Entscheidungen, die ihr Leben immer wieder in neue Bahnen lenkten.

Ein Test, ein ausführliches Gespräch – und schließlich die Erkenntnis: Das, was Mira ihr Leben lang für persönliches Versagen gehalten hatte, war Teil ihres neurobiologischen Musters.

Selbstverständnis statt Selbstvorwurf

Die Wochen nach der Diagnose waren ambivalent: Erleichterung – endlich eine Erklärung. Aber auch Trauer – über all die Jahre, die sie damit verbracht hatte, sich falsch zu fühlen.

Sie begann, über ihr Leben nachzudenken: Wie viel Kraft sie darauf verwendet hatte, „normal“ zu wirken. Wie viele Beziehungen darunter gelitten hatten, dass sie ständig zwischen Überforderung und Rückzug pendelte. Wie oft sie sich selbst als faul, unkonzentriert, chaotisch beschimpft hatte.

Heute, zwei Jahre später, spricht Mira offen über ihre Diagnose. Sie nimmt Medikamente, hat ihre Trinkgewohnheiten aufgegeben, geht regelmäßig in Therapie. Sie arbeitet wieder – langsamer, bewusster, ehrlicher.

„Ich weiß jetzt, dass mein Gehirn einfach anders funktioniert“, sagt sie. „Nicht schlechter – anders. Ich brauche andere Strukturen, mehr Pausen, weniger Schuldgefühle.“

Warum Aufklärung über ADHS bei Frauen so wichtig ist

Miras Geschichte steht für viele. Die Zahl der Frauen, die erst im Erwachsenenalter – oft nach Krisen, Zusammenbrüchen oder Burnouts – die Diagnose ADHS erhalten, steigt stetig. Diese späte Erkenntnis ist einerseits befreiend, andererseits erschütternd. Denn sie zeigt, wie sehr das gesellschaftliche Bild von „angepassten, leistungsfähigen“ Frauen dazu beiträgt, dass neurodivergente Lebensweisen übersehen werden.

ADHS bei Frauen bedeutet nicht immer Hyperaktivität. Es bedeutet häufig emotionale Intensität, Reizüberflutung, chronische Erschöpfung, innere Zerrissenheit – und den ständigen Versuch, es trotzdem allen recht zu machen.

Je mehr darüber gesprochen wird, desto eher kann Leid verhindert werden. Denn das eigentliche Problem ist nicht die neurobiologische Andersartigkeit, sondern das Unverständnis einer Umwelt, die Anpassung verlangt, wo Akzeptanz nötig wäre.

Ein neuer Blick

Mira hat gelernt, sich selbst anders zu sehen. Nicht als defekt, sondern als Mensch mit einem besonderen Nervensystem, das Sensibilität, Kreativität und Energie mit sich bringt – aber auch Verletzlichkeit.

Sie sagt heute: „Ich bin nicht geheilt. Ich bin verstanden. Und das ist der Unterschied, der mich leben lässt.“

Miras Geschichte ist ein Aufruf – zum Hinschauen, zum Verstehen, zum Anerkennen, dass viele Frauen mit ADHS jahrzehntelang kämpfen, ohne zu wissen, wogegen. Und sie erinnert daran, dass Heilung oft dann beginnt, wenn das eigene Leben endlich Sinn ergibt.

Ich selbst durfte viele wunderbare Frauen mit ADHS kennenlernen, die zum Teil lange Wege bis zur Diagnose und zum Verstehen gegangen sind. Ich durfte Mädchen kennenlernen, die schon als Kinder lernen durften, mit ihrer Einzigartigkeit umzugehen. Und natürlich kenne ich auch mindestens ebenso viele Geschichten von Jungen und Männern.

Jedoch werden bis heute etwa siebenmal mehr Jungen als Mädchen mit ADHS diagnostiziert – und erhalten so auch die passende Hilfe und Unterstützung. Lange ging man davon aus, dass Jungen einfach anfälliger sind, ADHS bei Jungs und Männern häufiger vorkommt. Inzwischen ändert sich die Lehrmeinung: Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Mädchen ebenso häufig betroffen sind wie Jungen.

Mit diesem ersten Artikel zu ADHS war es mir deshalb besonders wichtig, auf die weibliche Form dieser neurodiversen Ausprägung aufmerksam zu machen. In zwei Wochen geht es mit der männlichen Perspektive weiter. Bis dahin freue ich mich sehr auf eure Erfahrungen, euer Feedback und eure Anmerkungen.

Eure Constance

Funktionieren und Anpassen

ADHS bei Frauen und Mädchen - der unsichtbare Tornado in der Seele

Christian, Connie und das kleine Chaos - Ein Leben mit Asperger

Eigentlich alles ganz normal…

Wenn man Christian zum ersten Mal begegnet, fällt einem vermutlich zuerst sein Lächeln auf – etwas schief, aber echt. Der 34-Jährige arbeitet als Programmierer bei einer großen Versicherung, und während die meisten seiner Kolleg:innen ihre Tage mit endlosen Meetings verbringen, ist Christian glücklich, wenn er tief in Codezeilen versinken darf. Logik ist seine Sprache, Klarheit seine Komfortzone. Doch wie das Leben so spielt, hört es nicht an der Bürotür auf – und dort beginnt die eigentliche Geschichte.

Struktur ist kein Zwang, sondern ein Rettungsanker

Für Christian ist der Alltag wie ein Fluss, der gern mal in wilden Stromschnellen ausbricht. Sein Asperger-Syndrom macht ihn besonders sensibel für Reize: zu viel Lärm, zu viele Informationen, zu viele unausgesprochene Erwartungen. Struktur ist deshalb sein wichtigster Halt.

Der Tag beginnt immer gleich: um 6:30 Uhr klingelt der Wecker, um 6:35 Uhr steht er auf. Punkt. Connie, seine schwarze Labradorhündin, wartet dann schon schwanzwedelnd. Gemeinsam drehen sie ihre erste Runde durch den Park – immer dieselbe Strecke, immer dieselbe Länge. Für Christian ist das kein langweiliges Ritual, sondern ein Sicherheitsnetz, das ihm Ruhe gibt.

„Andere nennen es Gewohnheit, für mich ist es ein Schutzschild“, sagt er, wenn man ihn darauf anspricht.

Programmieren: Wenn die Welt endlich Sinn ergibt

Im Büro blüht Christian auf. Während Kolleg:innen über Kaffeemaschinenpolitik diskutieren („Wer hat schon wieder den Milchaufschäumer nicht sauber gemacht?“), sitzt er konzentriert vor dem Bildschirm. Code ist für ihn kein Chaos, sondern Musik. Jede Zeile hat eine Funktion, jeder Fehler eine Ursache. Keine unausgesprochenen Erwartungen, keine Doppeldeutigkeiten – alles klar, präzise, logisch.

Doch die größte Herausforderung im Job sind nicht die komplexen Programme, sondern die Kaffeepausen. Smalltalk fühlt sich für Christian an wie ein schlecht dokumentierter Code: voller Lücken und Missverständnisse. Wenn jemand sagt: „Lass uns das mal locker angehen“, fragt er sich ernsthaft: Wie locker ist locker? Ein bisschen? Sehr? Oder gar nicht?

Seine Kollegin Katharina, die inzwischen seine Freundin ist, hat eine besondere Rolle übernommen. Sie übersetzt die soziale Welt für ihn. „Locker heißt: Wir haben Zeit, also kein Stress“, erklärt sie dann mit einem Lächeln. Für Christian ist diese Klarheit Gold wert.

Liebe mit Bedienungsanleitung – oder doch ohne?

Dass ausgerechnet Katharina, seine Kollegin, sein Herz erobern würde, hat Christian selbst überrascht. Beziehungen sind für ihn ein Minenfeld: Nähe, Erwartungen, unausgesprochene Signale. Doch Katharina bringt Geduld und Humor mit – und Connie, die Labradorhündin, hat ihr sofort das Gütesiegel „vertrauenswürdig“ verliehen.

Natürlich gibt es Spannungsfelder. Katharina liebt spontane Ausflüge, Christian plant am liebsten Wochen im Voraus. Während sie schwärmt: „Lass uns doch einfach mal morgen ans Meer fahren!“, zieht sich in Christians Kopf ein ganzes Netz an Warnsignalen zusammen. Morgen? Aber der Hund? Aber die Wäsche? Aber die Autobahnausfahrten!

Oft ist es dann Connie, die vermittelt. Sie stupst Christian an, als wolle sie sagen: „Komm, ein bisschen Chaos geht schon.“ Und Christian versucht es tatsächlich: kleine Schritte in eine spontane Welt, mit Katharina an seiner Seite.

Humor als Kompass

Das Asperger-Syndrom bringt viele Herausforderungen mit sich, aber auch besondere Momente. Christian hat eine Fähigkeit, Dinge radikal wörtlich zu nehmen – was manchmal unfreiwillig komisch wird.

Als Katharina neulich sagte: „Christian, wir müssen den Gürtel enger schnallen“, überlegte er ernsthaft, warum sie über ihre Kleidung spricht, obwohl sie doch über das Haushaltsbudget reden wollte. „Ich hab den Gürtel schon im letzten Loch“, antwortete er trocken. Katharina lachte Tränen, und auch Christian musste schmunzeln, als der Groschen fiel.

Dieser Humor, manchmal schräg, manchmal unbeabsichtigt, ist zu einem ihrer wichtigsten Begleiter geworden. Er bricht Spannungen auf, macht Missverständnisse leichter und schenkt Leichtigkeit in Situationen, die sonst schwer sein könnten.

Inseln der Ruhe

Christian weiß, was ihm hilft: Rituale, klare Kommunikation, ehrliches Feedback. Wenn er überreizt ist, zieht er sich zurück – Connie legt sich dann schützend neben ihn. Spaziergänge im Grünen sind für ihn wie Reset-Knöpfe.

Doch er hat auch gelernt, dass er nicht alles alleine schaffen muss. Katharina, seine Familie und inzwischen sogar ein kleiner Freundeskreis sind seine Anker. Und obwohl das Navigieren zwischen Logik und Emotion für ihn oft ein Drahtseilakt ist, zeigt Christian, dass man kein „typisches“ Leben führen muss, um erfüllt zu sein.

Ein Fazit mit Augenzwinkern

Asperger ist kein Mangel, sondern eine andere Art, die Welt zu sehen. Für Christian bedeutet es: Er liest lieber Quellcode als Gesichtsausdrücke, er liebt klare Strukturen und stolpert manchmal über Metaphern. Aber er liebt auch – mit ganzem Herzen.

Und vielleicht ist genau das die Essenz: Dass ein Labrador, eine Kollegin und ein Haufen Code genügen, um ein Leben reich zu machen.

Oder, wie Christian es formulieren würde: „Glück ist, wenn der Code kompiliert, Connie neben mir liegt – und Katharina trotzdem bleibt.“

Zahlen, Daten, Fakten

In Deutschland lebt etwa ein Prozent der Bevölkerung mit einer Autismus-Spektrum-Störung. Der Anteil von Asperger liegt hierbei bei 10 bis 30 Prozent. Lange Zeit ging man davon aus, dass etwa viermal so viele Männer wie Frauen betroffen sind. Neuere Forschungen zeigen, dass – ähnlich wie bei ADHS – Frauen und Mädchen schlicht und ergreifend unterdiagnostiziert sind, da sie oft stärkere Kompensationsstrategien („Masking“ genannt) entwickeln und somit insbesondere in sozialen Situationen „unauffälliger“ sind. Heute geht man eher von einer Mann-Frau-Quote von zwei bis drei zu eins aus. Einige Fachleute vermuten sogar, dass es fast ausgeglichen ist.

Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass jede:r von uns irgendwann in seinem Leben Kontakt mit einem Menschen mit Asperger hat, ist groß. Hierbei liegt es an uns, diese Form der Neurodiversität als Bereicherung und Chance zu sehen. Viel zu oft erlebe ich an dieser Stelle Unsicherheit, manchmal sogar Ablehnung, die zumeist aus Unwissen resultiert. Dabei ist es so spannend, in die Welt eines Asperger-Autisten eintauchen zu dürfen. In meiner Rolle als (Business) Coach hatte ich bislang schon dreimal die Ehre, zu Gast in dieser Welt sein zu dürfen. Christian steht in diesem Artikel sinnbildlich für diese drei wunderbaren Menschen.

Wie immer bin ich ausgesprochen neugierig auf eure Erfahrungen mit dem Thema. Oder vielleicht habt ihr ja auch Fragen, die ich natürlich bestmöglich zu beantworten versuche. Mein kleiner Ausflug in die Welt des Asperger ist hiermit nämlich noch nicht beendet. In zwei Wochen werde ich Christians Eltern berichten lassen, wie Christians Kindheit verlaufen ist: der lange Weg hin zur Diagnose und die Phasen des Nichtverstehens, insbesondere in der Kindergarten- und Grundschulzeit.

Ich freue mich, wenn ihr dabei bleibt.

Eure Constance

Leben im Code

Struktur und Ordnung, berechenbar und klar.

Wenn der Himmel einstürzt - Anja lebt weiter

Für Anja - für alle Anjas

Resultierend aus dem vielen und vielfältigen Feedback zu meinem letzte Artikel zum Thema Suizid habe ich entschieden, dieses Thema in einem aktuellen Artikel ein weiteres Mal aufzugreifen. Dieses Mal aus der Perspektive derer, die zurück bleiben, die weiterleben, weiterleben müssen. Besonders berührt hat mich Anjas Nachricht, ihre Geschichte, die ich heute mit ihrer Zustimmung mit euch teilen darf. Danke Anja. Dieser Artikel ist für dich und für alle die, die deine Geschichte so oder ähnlich teilen.

Der Tag, an dem alles anders wurde

Anja hatte keine Worte für das, was geschah. Anja trank ihre erste Tasse Kaffee. Er duftete herrlich und sie genoss die Stille um sie herum. Die Kinder schliefen noch und ihr Mann war wie so oft sehr früh zum Sport gegangen. Es war ein Tag wie viele andere – bis zu dem Moment, als das Telefon klingelte. Oder war es ein Klopfen an der Tür? In ihrer Erinnerung verschwimmt alles. Was bleibt, ist ein Bild: ein Polizist mit ernster Miene, der sich räuspert, bevor er spricht. Und dann ist da nur noch ein Satz, der alles zum Stillstand bringt. Ihr Mann hat sich das Leben genommen. Der Himmel stürzt ein…

Anja kann sich erinnern, dass die Kinder noch fest schliefen, als sie wie gelähmt in deren Zimmer ging. Die beiden hatten damals noch ein gemeinsames Schlafzimmer. Sie hörte ihre Kinder atmen. Ein rhythmisches Ein und Aus, das so gar nicht zum Sturm in ihr passte.

Ein Teil von Anja wusste sofort, dass dieser Moment unwiderruflich war. Es war der Moment, in dem alles zerbrach – ihr Leben, ihre Ehe, ihre Hoffnung. Was ist mit den Kindern? Mit ihr? Dem Haus? Nur Fragen, keine Antworten…

 

Ein langer Kampf im Schatten der Depression

Die Depression ihres Mannes war kein Geheimnis. Anja hatte sie kommen sehen – langsam, schleichend, wie Nebel, der sich über alles legt. Zuerst waren es nur Stimmungsschwankungen, dann Rückzüge, das Vermeiden von Gesprächen, das Schweigen in Momenten, in denen sie Nähe suchte. Später kamen die schlaflosen Nächte, die Verzweiflung, die dunklen Gedanken, die Therapien.

Sie war da. Immer. Sie begleitete ihn zu Arztgesprächen, organisierte Klinikaufenthalte, war seine Stütze – auch dann, wenn sie selbst nicht mehr wusste, wie lange sie das noch aushalten konnte. Oft fragte sie sich, ob Liebe allein reicht. Ob Fürsorge, Geduld und Nähe genügen, um einen Menschen aus seiner Dunkelheit zu holen. Sie wollte daran glauben. Sie musste.

Nach dem Suizid: Zwischen Erstarrung und Funktionieren

Die ersten Tage nach dem Suizid fühlten sich an wie ein böser Traum. Anja funktionierte, irgendwie. Es gab so vieles zu tun – die formalen Dinge, die Gespräche mit den Behörden, die Organisation der Beerdigung. Und vor allem: das Gespräch mit den Kindern.

Wie erklärt man einem Kind, dass der Vater sich das Leben genommen hat? Wie spricht man über eine Entscheidung, die so endgültig ist – und so verletzend? Anja fand keine guten Worte. Sie weinte viel, auch vor den Kindern. Sie versuchte nicht, stark zu wirken. Nur ehrlich. „Papa war krank“, sagte sie. „So krank, dass er keinen anderen Ausweg mehr gesehen hat.“ Es fühlte sich falsch an, unvollständig – aber es war alles, was sie hatte. “Papa ist jetzt im Himmel und passt auf uns auf.”

 

Wut, Schuld und Sprachlosigkeit

Anja war nicht nur traurig. Sie war wütend. Auf ihn – weil er gegangen war, weil er sie und die Kinder zurückgelassen hatte. Auf sich – weil sie es nicht verhindern konnte. Auf die Ärzte – weil sie immer gesagt hatten, er sei stabil genug für den Alltag. Auf das System – das so oft an seine Grenzen stößt, wenn Menschen psychisch krank sind. Und manchmal auch auf die Freunde, die in den letzten Monaten so oft gefragt hatten: „Geht’s ihm besser?“ – als ob es eine einfache Antwort darauf gäbe.

Gleichzeitig spürte sie eine lähmende Sprachlosigkeit. In Gesprächen verstummten Menschen, wenn sie vom Tod ihres Mannes erzählte. Manche wechselten das Thema, andere machten einen großen Bogen um sie. Der Tod durch Suizid ist kein Thema, über das man leicht spricht – das wurde ihr schmerzhaft bewusst.

 

Zwischen Trauer und Erleichterung

Was Anja kaum auszusprechen wagte: Es gab Momente, in denen sie Erleichterung spürte. Nicht, weil er tot war – sondern weil der ständige Alarmzustand vorbei war. Kein stundenlanges Grübeln mehr: „Wo ist er? Geht es ihm gut? Hat er wieder einen Rückfall?“ Kein Zittern mehr, wenn das Telefon klingelte. Diese Erleichterung war kein Trost – aber sie war real. Und sie machte ihr zusätzlich Schuldgefühle.

Sie sprach darüber in einer Trauergruppe für Hinterbliebene nach Suizid. Zum ersten Mal fühlte sie sich verstanden. Da waren andere Frauen, andere Partner, erwachsene Kinder, Geschwister – alle mit einer Geschichte, die ähnlich klang. Alle mit diesem zerrissenen Gefühl zwischen Liebe, Wut, Trauer und Ohnmacht.

Ein Leben in Vorwürfen – oder in Würde?

Immer wieder fragte Anja sich: Hätte ich es verhindern können? War sie zu müde gewesen, zu unachtsam, zu spät dran mit dem richtigen Wort? Hatte sie nicht genau genug hingesehen?

Diese Fragen werden bleiben, das weiß sie. Aber sie hat gelernt, dass sie keine Antworten finden muss, um weiterleben zu dürfen. Ihr Mann war krank – und er hat eine Entscheidung getroffen, die niemand für ihn hätte abwenden können, solange er sich nicht helfen lassen wollte. Das anzunehmen, ist schwer. Aber es ist der einzige Weg, nicht selbst daran zu zerbrechen.

Heute: Reden statt Schweigen

Heute spricht Anja offen über den Suizid ihres Mannes. Nicht jeden Tag, nicht immer freiwillig – aber immer dann, wenn sie merkt, dass ihr Schweigen anderen das Gefühl geben würde, allein zu sein. Sie erzählt ihre Geschichte, weil sie weiß, dass viele sich in ihrer Lage schämen. Weil noch immer so viele Menschen glauben, Suizid sei ein Tabu.

Sie will nicht missionieren. Nur erzählen. Vielleicht Mut machen. Vielleicht einen kleinen Raum schaffen, in dem andere sagen können: „So war das bei uns auch.“

 

Der Schmerz bleibt – aber er verändert sich

Anja wird den Schmerz nie ganz loswerden. Sie lebt mit einem Loch in ihrem Leben, einem Riss in ihrer Biografie. Aber sie hat gelernt, dass dieser Schmerz sich wandeln kann. Dass aus der reinen Verzweiflung auch etwas wachsen kann – Mitgefühl, Stärke, Klarheit.

Manchmal sagt sie heute: „Ich liebe ihn noch immer. Aber ich lebe jetzt mein Leben weiter.“ Und das ist kein Widerspruch.

Anja sieht das Strahlen ihres Mannes in den Augen ihres Sohnes. Ole ist inzwischen Teenager und das Ebenbild seines Papas. Manchmal würde Anja alles geben für ein einziges gemeinsames Abendessen, so wie früher. Sie wünscht sich so sehr, dass ihr Mann Ole sehen könnte, stolz darauf sein könnte, wie ähnlich er ihm ist, wie hübsch, wie klug Ole ist. Stine, Oles kleine Schwester, kann sich kaum an ihren Papa erinnern. Anja redet oft von ihm und kämpft dafür, dass er Teil ihres Lebens bleibt, Teil des Lebens seiner Kinder. Und doch bleit Abend für Abend ein Platz leer . Noch immer, nach all den Jahren, ist es ein kleiner Stich in ihrem Herzen, wenn sie nur drei Teller aus dem Schrank holt.

Lasst uns aufeinander aufpassen, auch wenn wir, wie Anja, wissen, dass wir niemanden retten können. Aber wir können Hände reichen. Und hierbei sind wir nicht allein. Hier sind einige Anlaufstellen für euch, die in akuten Krisen ganz professionell und liebevoll unterstützen.

📞 Telefonseelsorge: 0800 111 0 111 (kostenlos, anonym, rund um die Uhr)

📞 Nummer gegen Kummer (für Kinder & Jugendliche): 116 111

🌐 www.suizidprophylaxe.de – Deutsches Bündnis gegen Depression

🌐 www.frnd.de – Freunde fürs Leben

Eure Constance