Psychische Erkrankung

"Ich wollte nicht sterben, ich wollte nur, dass es aufhört." - Suizid verstehen, nicht verurteilen

Dieser Artikel ist ein Beitrag über das Unsichtbare, das viele in sich tragen. Über Zahlen. Über Schmerz. Und über Hoffnung.

Suizide in Deutschland - ein stilles Thema mit lauten Zahlen

In Deutschland sterben jährlich mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Drogen oder Gewalttaten zusammen. Im Jahr 2022 nahmen sich laut Statistischem Bundesamt rund 9.200 Menschen das Leben – das sind im Schnitt 25 Menschen pro Tag.

Etwa 75 % der Suizidtoten sind Männer, obwohl Frauen häufiger Suizidversuche unternehmen. Die Zahl der Versuche ist um ein Vielfaches höher als die der vollendeten Suizide – Schätzungen gehen von über 100.000 Versuchen pro Jahr aus.

Und doch sprechen wir kaum darüber. Suizid bleibt ein Tabu – auch, weil es schwer auszuhalten ist.

Wer ist gefährdet und Warum?

Es gibt keine „eine“ Gruppe. Aber es gibt Muster. Und es gibt Zusammenhänge.

Ältere Männer

Am häufigsten betroffen sind ältere Männer über 70. Sie erleben oft Mehrfachverluste: Partner:innen sterben, Freundschaften brechen weg, körperliche Erkrankungen häufen sich, das Gefühl von „Nicht-mehr-gebraucht-werden“ nimmt zu. Hinzu kommt oft eine lebenslange Sozialisierung, in der Schwäche zeigen nicht erlaubt war. Es war zuletzt der langjährige Trigema-Chef und Patriarch Wolfgang Grupp, der seinen Suizidversuch resultierend aus einer schweren Altersdepression öffentlich machte, um mit diesem mutig Schritt auf das große Tabu aufmerksam zu machen.

Jugendliche und junge Erwachsene

In der Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen ist Suizid die zweithäufigste Todesursache. Besonders gefährdet sind Jugendliche mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Essstörungen oder Persönlichkeitsstörungen – oft gepaart mit sozialem Druck, Mobbing oder familiärer Überforderung.

Menschen mit psychischen Erkrankungen

Rund 90 % der Suizidtoten litten nachweislich an einer psychischen Erkrankung, v.a. an Depression, bipolarer Störung, Schizophrenie oder Suchterkrankungen. Viele erleben innere Leere, Hoffnungslosigkeit, Schuld- oder Schamgefühle, die über lange Zeit ertragen wurden.

Queere Menschen & Geflüchtete

Auch Menschen aus LGBTIQ+-Communities sowie Geflüchtete sind überdurchschnittlich gefährdet. Sie erleben häufiger Diskriminierung, Vereinsamung, Identitätskonflikte und chronischen Stress.

“Ich wollte nur dass es aufhört.” - Was Menschen in den Suizid treibt

Suizid ist kein Impuls, kein Wunsch zu sterben um des Todes willen. Oft ist es ein letzter Ausweg aus einem als unerträglich empfundenen inneren Zustand.

 Typische Motive:

  • Hoffnungslosigkeit: Die Überzeugung, dass sich nichts mehr ändern wird.

  • Gefühl von Wertlosigkeit: „Ich bin eine Last für andere“.

  • Emotionale Isolation: „Mich versteht niemand“.

  • Chronischer Stress oder traumatische Belastung inklusive posttraumatischer Belastungsstörungen

  • Unverarbeitete Verluste oder Schuldgefühle

  • Schwere Depressionen

  • Suchterkrankungen ohne erkennbare Perspektive

Was viele nicht wissen: Suizidgedanken sind nicht gleichbedeutend mit einem festen Entschluss. Sie können kommen und gehen – sie sind Ausdruck eines extremen seelischen Zustands. Wer sie äußert, ist nicht direkt akut gefährdet oder gar “gefährlich”, sondern in Not.

Die drei Phasen einer suizidalen Entwicklung

Suizide sind in den seltensten Fällen Resultat eines spontanen Entschlusses. Viel mehr ist die Entscheidung zum Suizid oft das Resultat eines längeren, bewussten Prozesses. Der österreichische Psychiater Walter Pöldinger hat diesen Prozess bereits 1968 an Hand eines Phasenmodells beschrieben, das ich zum besseren Verständnis dafür, wie sich eine suizidale Krise aufbaut, kurz darstellen möchte.

Das Erwägungsstadium

In dieser Phase wird Suizid als mögliche Problemlösung in Erwägung gezogen. Entsprechende Gedanken werden oft durch psychische Erkrankungen (insbesondere Depressionen) ausgelöst. Auch suggestive Einflüsse wie zum Beispiel Suizide im direkten Umfeld, oder Presseberichte über Suizide, oder Besonderheiten in der Persönlichkeitsstruktur sind oft an der Entwicklung hin zu einer suizidalen Krise beteiligt. In dieser ersten Phase können Betroffene ihre Gedanken und Handlungen noch bewusste steuern und sind nicht akut gefährdet.

Das Ambivalenzstadium

In dieser zweiten Phase sind Betroffene hin- und hergerissen zwischen immer konkreter werdenden Suizidimpulsen und den psychischen Selbsterhaltungskräften, die sich dem Leben zuwenden. In dieser Phase kommt es häufig zu Hilferufen in Form von Andeutungen, manchmal sogar in Form von sehr konkreten Aussagen wie zum Beispiel “Es wäre besser, wenn ich nicht mehr da wäre”, oder “Ich habe schon so oft daran gedacht, allem ein Ende zu setzen”. Insbesondere Therapeuten, aber auch Ärzte sind geschult darin, diese Phase zu erkennen und eine entsprechende Krisenintervention einzuleiten. Aber auch jeder Freund, jeder Angehörige darf nachfragen, sensibel sein, animieren, einen Therapeuten aufzusuchen.

Das finale Entschlussstadium

In dieser finalen Phase erscheinen die Betroffenen oft besonders gelöst und entspannt, weil der innere Kampf beendet ist, die Entscheidung getroffen wurde. Manchmal fangen Betroffene an, finale Formalitäten zu klären, Besitz zu verschenken, sich nochmal mit den wichtigsten Menschen zu treffen, um sich oft für andere nicht erkennbar zu verabschieden. Dieses Verhalten wird deshalb auch oft als “die Ruhe vor dem Sturm” bezeichnet. Doch in Wirklichkeit befinden sich die Betroffenen in einer akuten psychischen Ausnahmesituation. Suizidfantasien drängen sich so sehr auf, dass Betroffene oft phasenweise nicht mehr ansprechbar sind. Betroffene müssen schnellstmöglich in eine psychiatrische Klink, im Zweifelsfall sogar gegen ihren Willen. Rechtliche Grundlage hierfür stellen die sogenannten “Psychisch-Kranken-(Hilfs-)Gesetze” der Bundesländer dar.

Ein weiterer österreichischer Psychiater, Erwin Ringel, hat 1953 etwas genauer beschrieben, was in der Entwicklung hin zu einem Suizid in der Seele des Menschen passiert. Sein prä-suizidales Syndrom beschreibt drei Teilbereiche, die anders als im Phasenmodell nach Pöldinger nicht hintereinander, sondern in einer beliebigen Reihenfolge oder auch gleichzeitig auffällig sein können.

Einengung:

Der Blick verengt sich – innerlich und äußerlich. Betroffene sehen keine Alternativen mehr, können oft nicht mehr klar denken. Sie verlieren den Zugang zu ihren eigenen Ressourcen und erleben ihre Probleme als unlösbar. Auch soziale Kontakte werden reduziert.

„Ich habe irgendwann aufgehört, anderen zu erzählen, wie es mir geht. Es war sinnlos.“

Aggressionsumkehr (nach Innen):

Nicht selten richten sich aufgestaute Wut oder Enttäuschung über andere – oder das Leben – gegen die eigene Person. Der Schmerz wird zur Schuld, die Wut zur Selbstabwertung. Suizid erscheint als „gerechte Strafe“ oder als letzter Versuch, Kontrolle zurückzugewinnen.

„Ich dachte, ich hab das alles verdient. Dass ich einfach falsch bin.“

Suizidphantasien:

Menschen malen sich aus, wie es wäre, wenn einfach alles vorbei wäre, wie sie ihr Leben beenden würden. Ggf. gehen sie bereits in eine konkrete Planung.

“Ich war ganz ruhig, denn ich wusste, dass es eine Lösung, einen Ausweg gibt.”

Wer diese Zeichen erkennt - bei sich selbst oder bei anderen - kann Leben retten.

Was hilft - und was nicht

Suizidale Krisen sind behandelbar. Es gibt Auswege.

Was helfen kann:

  • Zuhören, ohne sofort zu „reparieren“

  • Über Suizidgedanken sprechen – offen und ehrlich

  • Keine Schuldgefühle machen

  • Professionelle Hilfe suchen – auch gemeinsam

  • Krisentelefone und Notdienste nutzen

Was nicht hilft:

  • Sätze wie „Reiß dich zusammen“ oder „Das geht vorbei“

  • Schuldzuweisungen („Denk an deine Familie!“)

  • Schweigen oder Wegsehen

  • Geheimhaltung, wenn Gefahr besteht

Hoffnung ist möglich - auch wenn man sie nicht mehr fühlt

Menschen, die eine suizidale Krise überleben, berichten ähnlich wie Wolfgang Grupp oft davon, dass sie froh sind, noch da zu sein. Dass es Hilfe gibt, die funktioniert. Dass die Dunkelheit nicht bleibt. Aber auch, dass es Mut braucht, sich Hilfe zu holen – vor allem, wenn man sich selbst nicht mehr als lebenswert empfindet.

 „Ich lebe noch. Und manchmal ist das alles, was ich an einem Tag schaffe. Aber das reicht. Ich bin da.“

Wenn du betroffen bist – oder dir Sorgen machst

Du bist nicht allein. Bitte hol dir Hilfe. Du musst das nicht alleine tragen.

📞 Telefonseelsorge: 0800 111 0 111 (kostenlos, anonym, rund um die Uhr)

📞 Nummer gegen Kummer (für Kinder & Jugendliche): 116 111

🌐 www.suizidprophylaxe.de – Deutsches Bündnis gegen Depression

🌐 www.frnd.de – Freunde fürs Leben

Jeder Mensch hat das Recht, zu leben – auch, wenn er es manchmal selbst nicht mehr glauben kann. Lasst uns darüber sprechen.

Eure Constance

Anna und Michael: Wenn sich das eigene Kind verliert - psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen

Wie im Märchen

Anna rutscht etwas tiefer in den großen grauen Sessel. Neben ihr sitzt Michael, ihre Jugendliebe. Es war wie im Märchen: Nach dem gemeinsamen Abi wurde gemeinsam studiert. Er Informatik, sie Publizistik. Die ersten Jobs, die erste gemeinsame Wohnung, das erste Kind, Sophie. Ein Reihenmittelhaus in einem ruhigen Teil der Stadt, das zweite Kind, Marie. Anna hat recht schnell nach Maries Geburt wieder angefangen zu arbeiten – in Teilzeit. Ihre Mutter, die ganz in der Nähe wohnt, hat bei der Betreuung unterstützt. Ihre Töchter waren wunderbar, Michael war wunderbar. Anna lebte das Leben, das sie sich immer vorgestellt hatte. Es war perfekt.

Verrückt eigentlich, dass dieses Märchen sie nun in die Praxis eines Paartherapeuten geführt hat. Michael sitzt im grauen Sessel neben Anna. Er sieht müde aus, denkt Anna, als sie zu ihrem Mann schaut.

„Ihre familiäre Situation, die Sorge um Ihre Tochter, stellt natürlich eine besondere Herausforderung für Ihre Paarbeziehung dar“, fasst der Therapeut zusammen und reißt Anna aus ihren Gedanken.

Eigentlich verrückt, dass Märchen so eine Wendung nehmen, denkt Anna, als sie die Praxis verlassen, um zum Auto zu gehen. Draußen scheint die Sonne. Ein wunderschöner Frühsommertag.

Zurück auf Anfang

Was ist passiert, dass aus dem Märchen eine Situation wurde, die Anna und Michael manchmal einfach nicht mehr aushalten können – und sie doch aushalten müssen? Es fühlt sich wie in einem anderen Leben an. Noch sehr gut erinnern sich Anna und Michael an den Tag, als der Brief im Briefkasten lag, der schwarz auf weiß bestätigte, dass ihre wunderhübsche und fröhliche Tochter Sophie hochbegabt ist. Sie waren so stolz und gleichzeitig auch besorgt. Sofort vereinbarten die beiden ein Gespräch mit Sophies Klassenlehrerin, um zu besprechen, was das denn nun bedeutet, wie man Sophie am besten fördern könnte. Zu diesem Termin kam es nie. Plötzlich war Lockdown – und alles war anders. Sophie zog sich immer mehr zurück. „Pubertät“, dachte sich Michael, während Anna wieder und wieder versuchte, an ihre Große ranzukommen. Wieder und wieder prallten ihre Bemühungen an Sophie ab, wie dieser kleine Ball beim Squash an der Wand. Sophie hörte auf zu sprechen, fing wie besessen an, Sport zu machen, zu laufen, Tag für Tag, Kilometer für Kilometer. Beim Essen gab es nur noch Streit, weil Sophie plötzlich eine strenge Diät hielt. Vorbei waren diese typischen Abendessen im Familienkreis, während denen man sich über den Tag austauschte. Es ging nur noch um Sophies Essverhalten – oder eher um ihre Weigerung, Nahrung zu sich zu nehmen. Für gewöhnlich endeten die Abende so, dass die Mädchen sich in ihre Zimmer zurückzogen, Michael saß allein auf der Couch und starrte ins Leere, und Anna weinte heimlich im Bad.

„Sophie ist doch magersüchtig“, sagte Annas Freundin. „Du musst dafür sorgen, dass sie mehr isst. Das kann doch nicht gesund sein. Sie wird ja immer weniger!“

Anna fühlt sich unfähig – als Mutter, als Mensch. Wieso gelingt es ihr nicht, auf ihre Tochter aufzupassen? Was für eine Mutter ist sie, wenn sie nicht verhindert, dass ihre Tochter vor ihren Augen immer kränker wird? Fast jede Nacht liegt Anna wach. Sie spürt, dass auch Michael wach ist. Sie liegen schweigend nebeneinander – zusammen und doch jeder für sich. Auch tagsüber sind sie immer zusammen – und doch bleibt jeder für sich. Sie arbeiten nun beide im Homeoffice, was in deren Fall bedeutet, dass Anna mit dem Laptop im Schlafzimmer sitzt und Michael im Wohnzimmer. Irgendwie ist es schön, diese Nähe, aber irgendwie sorgt sie wieder und wieder für Konflikte – untereinander, aber auch mit Sophie. Vor allem mit Sophie. Marie läuft so mit, macht keinen Ärger, fällt eigentlich nicht auf. Vielleicht ist da auch gar kein Platz mehr für Marie, weil Sophies Schwere und Traurigkeit das ganze Haus füllt. Diese Traurigkeit legt sich wie eine Lehmschicht auf das gesamte Leben der Familie.

Irgendwann dürfen die Mädchen zurück in die Schule. Michael ist erleichtert. Nun wird alles besser. Anna ist besorgt, weil sie nun ja gar nicht mehr mitbekommt, was Sophie noch isst.

Es war an einem Donnerstag, als die Schule bei Anna anrief. Sophie sei zusammengebrochen, man habe einen Krankenwagen gerufen. Anna spürt, wie ihr das Blut in die Beine sackt. Ihr ganzer Körper zittert. Ihr Brustkorb fühlt sich an wie in einem Schraubstock. Sie kann nicht mehr atmen. Anna ist am Boden zerstört, aber sie ist nicht überrascht. Sophie hat sich über Monate geweigert, zu einer Therapie zu gehen. Sie hat gelogen, getrickst, geschummelt. Immer wieder gab es Streit zwischen ihr und Michael, weil sie Sophie doch auch nicht zum Essen zwingen können. Sie waren in einer Beratung für Eltern und haben gelernt, dass es bei Magersucht um Kontrolle geht – dass Sophie das Letzte kontrolliert, was ihr vor dem Hintergrund von Corona und Lockdown gefühlt noch geblieben ist: ihren Körper. Das Wissen um die Ursache verbessert die Situation jedoch nicht.

„Was ist, wenn sie stirbt? Was ist, wenn sie sich zu Tode hungert?“ Michaels Stimme ist fast nicht hörbar. Ihm läuft eine Träne über das Gesicht, während er sich versucht, auf den Verkehr zu konzentrieren.

Im Krankenhaus angekommen gibt es zunächst Diskussionen, ob denn überhaupt beide zu Sophie dürfen – wegen der Corona-Maßnahmen. Michael ist kurz davor zu schreien. Er will doch einfach nur zu seinem kleinen Mädchen. Schließlich kommt die behandelnde Ärztin. „Ihrer Tochter geht es den Umständen entsprechend gut. Sie ist stabil, aber sie ist sehr krank.“ Michael hört jedes einzelne Wort – und ist doch woanders. Er sieht die feinen Muster auf dem Boden und den goldenen Ehering, den die Ärztin an einer Kette um den Hals trägt. Er hört, wie Anna sich versucht zu verteidigen: „Wir haben wirklich alles versucht, alles. Sophie weigert sich zu essen, sie weigert sich, zu einer Therapie zu gehen. Wir können sie doch nicht zwingen.“ Anna bricht in Tränen aus. Die Ärztin streicht ihr liebevoll über die Schultern.

„Kann ich Sophie jetzt sehen?“ Michaels Stimme ist auf einmal ganz fest – und plötzlich steht er vor seiner Kleinen, vor einem Bett mit gelb-weißer Bettwäsche. Sophie sieht unendlich dünn aus, blass. Sie schaut ihn mit leeren Augen an und wirkt dabei unendlich verloren. „Papa, ich will nach Hause. Mir geht’s gut!“

Es ist der Beginn einer scheinbar endlosen Reise durch das Gesundheits- und Therapiesystem Deutschlands. Neben Magersucht und Sportzwang werden zunächst auch mittelschwere Depressionen diagnostiziert. Allerdings haben Magersucht und Sportzwang in der Behandlung Vorrang. Sophie ist zunächst acht Wochen in der Klinik zur akuten Behandlung und danach fast ein halbes Jahr in einer Fachklinik, die auf die Behandlung von Magersucht spezialisiert ist. Sie nimmt langsam zu, ihr Essverhalten normalisiert sich, und auch der Zwang zu laufen wird weniger. Michael ist erleichtert. Anna nicht. Sie sieht, wie ihre Tochter zwar zunimmt, gleichzeitig nimmt sie jedoch auch wahr, dass Sophie mit jedem Kilo trauriger, leerer, hoffnungsloser zu werden scheint. Als sie am Tag der Entlassung zu Hause angekommen sind, hat Marie einen Kuchen gebacken. Sophie geht wortlos an ihr vorbei, verschwindet in ihrem Zimmer und starrt an die Decke.

Einige Monate später steht Sophie gedankenverloren auf dem Balkon ihrer Oma im fünften Stock. Es ist bitterkalt. Als Anna Sophie fragt, ob sie denn nicht reinkommen möchte, schaut Sophie durch sie hindurch und sagt nur: „Ich sollte springen, dann wäre endlich alles vorbei.“ Anna steht da, wie gelähmt …

Die neue Diagnose heißt: schwere Depressionen mit suizidalen Episoden. Michael sitzt auf einem Stuhl im Garten. Es hat geschneit. Er sitzt da und kann den Schmerz in seiner Seele nicht mehr ertragen. Er spürt, wie sein Herz bricht, während er Sophie so leiden sieht. Die Traurigkeit und Verzweiflung seiner Tochter machen auch ihn immer trauriger, verzweifelter. Die neuen Medikamente helfen ein wenig. Die Psychiaterin sagt, dass sie Kindern und Jugendlichen keine stärkeren Präparate verordnen dürfe. So ist Sophie gefangen im Nirgendwo.

Es war Ostern, als Sophies Oma Anna besorgt zur Seite nahm. Sie habe lauter Narben an Sophies Unterarmen gesehen. Ob sie wohl doch noch einmal versucht habe, sich das Leben zu nehmen?

„Schieb die Ärmel hoch, Sophie! Jetzt, sofort!“ Sophie war erschrocken. So hat ihr Papa sie noch nie angeschrien. Also schob sie die Ärmel ihres grünen Wollpullis nach oben, und zum Vorschein kamen zahllose Narben an beiden Unterarmen. „Spinnst du?“ Marie schreit Sophie aus voller Lunge an und rennt weinend in ihr Zimmer. Anna nimmt sie in den Arm und fragt nur leise, warum sie das tue.

„Keine Sorge, ich versuche mir nicht das Leben zu nehmen. Manchmal wird der Druck so groß. Und dann hilft das. Wenn ich schneide und wenn das Blut langsam rausläuft, entspannt das. Es tut irgendwie gut. Ich kann das nicht erklären. Aber ich will nicht sterben. Ich habe das im Griff. Macht euch keine Gedanken.“

In der Selbsthilfegruppe für Angehörige psychisch Kranker bekommen Anna und Michael eine ähnliche Erklärung – ein Ausdruck inneren Schmerzes, kein Ruf nach Aufmerksamkeit, sondern eine Möglichkeit, sehr starke Gefühle wie innere Leere, Wut oder Trauer zu regulieren, keine Suizidabsicht. Aber auch das beruhigt nicht, wenn sich die eigene Tochter wieder und wieder mit Rasierklingen die Unterarme aufritzt.

Die Psychiaterin möchte Sophie gerne wieder einweisen – in die Klinik, die Sophie bereits kennt. Doch dort möchte sie, die inzwischen 17 Jahre alt ist, auf keinen Fall mehr zurück. Jede andere Klinik würde sie ausprobieren, aber nicht noch einmal dorthin. Die Ärztin weigert sich, Sophie an eine andere Klinik zu überweisen. Zu Hause gibt es zunächst Streit, weil Michael nicht versteht, warum Sophie sich so querstellt. Sophies Oma vermittelt schließlich und macht sich gemeinsam mit Anna auf die Suche nach einer anderen Klinik. Tagelang telefonieren sie sich durch Deutschland. Währenddessen scheint es Sophie wenigstens ein bisschen besser zu gehen. Allerdings wird es von Tag zu Tag schwerer, Sophie zu motivieren, in die Schule zu gehen. Insbesondere morgens ist sie sehr erschöpft und müde. Trotz ihrer langen Krankengeschichte sind Sophies Noten nach wie vor gut. Hochbegabung! Da war doch was. Allerdings haben die Fehltage so zugenommen, dass die Schule droht, ihr kein Zeugnis mehr ausstellen zu können.

Für Anna und Michael ist es eine Gratwanderung – zwischen dem Druck, den sie als Eltern in dieser Situation gefühlt auf Sophie ausüben müssen, um ihre Zukunftschancen zu wahren, und der Sorge, dass der Druck so groß sein könnte, dass sie wieder kränker werden, endgültig den Boden unter den Füßen verlieren oder doch Selbstmord begehen könnte.

Es ist Sommer. Anna kann mal wieder nicht einschlafen und geht in die Küche, um etwas zu trinken. Die Terrassentür ist offen. Als Anna sie schließen will, fällt ihr ein süßlicher Geruch auf – und Sophie, die im Schein einer Straßenlaterne in der hintersten Ecke des Gartens hockt. Anna traut ihren Augen nicht. Da hockt ihre Kleine und raucht einen Joint. „Was um alles in der Welt tust du da?“, schreit Anna sie an. „Bist du wahnsinnig? Mit deinen Medikamenten? Du kannst doch nicht kiffen. Das ist gefährlich.“

Vom Geschrei wird Michael wach und kommt ebenfalls in den Garten. Sophie erklärt, dass der Joint vorm Einschlafen die fiesen Stimmen in ihrem Kopf zum Schweigen bringe. Sie könne sich dann endlich entspannen. Die Medikamente wirkten ja nicht mehr, und die „blöde Kuh von Psychiaterin“ wolle ihr ja nichts anderes verschreiben. Seit einem guten halben Jahr rauche sie nun schon Abend für Abend, und es tue ihr gut.

Michael schläft in dieser Nacht gar nicht. Was ist er für ein Vater, der ein halbes Jahr lang nicht mitbekommt, dass seine Tochter kifft? Wieder und wieder versagt er. Er schafft es einfach nicht, auf sein kleines Mädchen aufzupassen.

Seit diesem Tag muss Sophie sich nicht mehr verstecken, wenn sie abends ihren Joint raucht. Anna und Michael fühlen sich hilflos, machtlos. Natürlich sollte Sophie keine Drogen konsumieren, aber sie braucht sie, um die Depressionen im Griff zu behalten. Sollten sie Sophie das verbieten? Und überhaupt – wie sollte man ein Verbot bei einer fast 18-Jährigen durchsetzen? Immerhin scheint es ein wenig bergauf zu gehen. In Norddeutschland gibt es eine Klinik, die Sophie aufnehmen möchte. Man ist bereits in den virtuellen Diagnosegesprächen, als der nächste Rückschlag kommt: Solange Sophie Cannabis konsumiert, kann vor dem Hintergrund dieser Suchterkrankung keine abschließende Diagnose des weiteren Krankheitsbildes durchgeführt werden – und ohne Diagnose keine stationäre Aufnahme. Das sind die Regeln! Das könne man auch aufgrund der Krankenkassen und deren Vorgaben nicht anders machen. Alle sind am Boden zerstört. Sophie hatte langsam angefangen zu hoffen – zu hoffen auf ein normales, gesundes, unabhängiges und vor allem glückliches Leben.

Die Psychiaterin meinte nur, Sophie solle eben einfach aufhören zu kiffen. Aber Sophie kann nicht. Sie braucht die Therapie, um stabil genug zu werden, damit sie dann auch ohne Joint schlafen kann. Warum versteht das denn niemand?

Michael hat über die Jahre gelernt, nicht mehr wütend zu sein. Er hat gelernt, das Leben anzunehmen und im Rahmen seiner Möglichkeiten zu gestalten. Aber es gibt Momente, da wird die Wut so groß, dass er nicht weiß, wohin damit. Seine Tochter, sein kleines Mädchen, hat damals aus Rücksicht auf diese vulnerablen Gruppen auf so viel verzichtet, dass sie daran zerbrochen ist. Heute ist sie vulnerabel – höchst vulnerabel. Wer nimmt denn nun auf sie Rücksicht? Wer hilft Sophie? Wer hilft ihnen?

Anna und Michael sitzen wieder am Telefon. Sie suchen Rat, Hilfe, einen neuen Psychiater – vielleicht auch ein bisschen ein Wunder. Wie schön wäre es, wenn es für betroffene Eltern eine Art Checkliste gäbe. Aber nein, sie müssen sich selbst kümmern, recherchieren, suchen, fragen. Die Antworten sind ähnlich: Ohne „Abstinenznachweis“ keine Therapie. So landen sie schließlich bei der Suchtberatung. Die Dame am Telefon ist nett, verständnisvoll. Sie sucht nach einer Lösung und lädt schließlich zu einem Beratungsgespräch ein und stellt Kontakt zu einer Einrichtung her, in der Sophie direkt ihren Entzug beginnen kann, bei dem parallel ihre Medikamente so angepasst würden, dass der Entzug für sie machbar würde. Ein kleines Leuchten am Horizont.

Die Dame in der Beratungsstelle erklärt, dass es wichtig wäre, Sophie in die Planung und die nächsten Schritte mit einzubeziehen. Man muss ihr das Gefühl der Selbstbestimmung geben – erstens, weil sie ja nun schon fast erwachsen sei, aber auch vor dem Hintergrund der überwundenen Magersucht.

Anna und Michael stehen mal wieder vor Sophies verschlossener Zimmertür und flehen sie an, aufzumachen. Man hätte noch eine Idee, noch eine Möglichkeit. Sophie öffnet und legt sich auf ihr Bett. Sie starrt an die Decke, und eine Träne läuft ihr über die Wange. Ihre Eltern erklären ihr die Möglichkeit einer Suchtberatung und eines Entzugs. Es ist ein letzter Strohhalm, an den sich Anna und Michael verzweifelt klammern.

„Würdest du mitkommen, zu einer ersten Beratung? Du darfst danach auch wirklich selbst entscheiden, wie es weitergeht. Aber lass es uns doch mal probieren. Bitte.“ Annas Stimme klingt fast flehend. Sie kann ihre Tochter nicht aufgeben. Es ist doch ihr Kind. Ihr talentiertes, wundervolles Kind.

Sophie nickt. Anna und Michael sind erleichtert. Dann schaut Sophie sie direkt an, abwechselnd schaut sie ihren Eltern in die Augen und sagt mit fester Stimme:

„Ich lebe doch eh nur noch für euch.“

Anna und Michael wollen nicht aufgeben, aber dieser Satz ist wie ein Stich ins Herz. Gnadenlos, schmerzhaft, entwaffnend und offen.

Zurück im Hier und Jetzt

Der Termin in der Suchtberatung ist in zehn Tagen. Die Beraterin war froh, ihnen ob der Umstände einen so schnellen Termin anbieten zu können. Auch einen neuen Psychiater haben sie gefunden. Zwar etwas weiter weg, aber das ist egal. Der erste Termin ist im September. Früher war nichts mehr frei. Aber hey, die Zeit bis dahin würden sie auch überbrücken. Sie würden das schon schaffen – für Sophie. Und parallel müssen sie aufpassen, sich selbst nicht zu verlieren. Und Marie – was ist eigentlich mit Marie?

Gestern kam noch eine Mail von der Suchtberaterin, die sich freut, dass Sophie sich bereit erklärt hat, mitzukommen. „Ihre Tochter ist ein großartiges Mädchen. Es muss sie viel Kraft und Mut kosten, nicht aufzugeben und sich wieder und wieder ihren Themen zu stellen. Seien Sie stolz auf sie.“

Michael kommen die Tränen, als er das liest. Ja, er darf nicht vergessen, wie stark und mutig Sophie ist. Sie gibt nicht auf. Sie kämpft. Wie hart, wie schwer, wie anstrengend dieser Kampf für seine Tochter sein muss, kann Michael nur erahnen. Depression bedeutet, an einer Krankheit zu leiden, die man nicht sehen kann. So kann man auch Sophies Kampf nicht sehen – und doch findet er statt, Tag für Tag, Minute für Minute, Sekunde für Sekunde.

Solltet auch ihr selbst gegen diesen unsichtbaren Dämon kämpfen – oder gibt es liebe Menschen um euch herum, die diesen Kampf aufgenommen haben –, findet ihr auf der Homepage der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention deutschlandweite Anlaufstellen für Betroffene, Angehörige, Lehrer und Firmen. Keiner muss diesen Kampf allein angehen.

Ich freue mich auch dieses Mal über euer Feedback und eigene Erfahrungen mit diesem Thema.

Eure Constance

Nur nicht loslassen

Nicht aufgeben! Sich nicht verlieren….

Sophie: Wie der Lockdown ein junges Leben verändert hat - Psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen

Es gibt unterschiedliche Studien dazu, wie stark der Anteil psychisch kranker Kinder und Jugendlicher mit Corona gestiegen ist. Die deutschlandweite COPSY-Studie geht von einem Anstieg während der Pandemie von fast 15 Prozent aus, und auch bis heute liegt der Anteil rund 5 Prozent höher als vor der Krise. Insbesondere Depressionen, Angststörungen und Essstörungen haben während und nach Corona deutlich zugenommen. Zahlen, die alarmieren – und doch sind es nur Zahlen. Hinter jeder dieser Zahlen steht ein Mensch, eine Zukunft, Träume, Wünsche, Hoffnungen. Und hinter jedem Menschen steht eine Familie mit all ihren Sorgen, der Hilflosigkeit und der Angst um die Zukunft ihres Kindes. Ich selbst durfte in den letzten zwei bis drei Jahren einige dieser Schicksale kennenlernen – sei es durch Freunde, in der Familie, über Eltern, die bei mir als Coach Rat gesucht haben, über Kolleginnen und Kollegen, über Lehrerinnen und Lehrer. Besonders berührt mich aktuell, dass diese Kinder, die nun Jugendliche sind, Schritt für Schritt durch unser Raster zu fallen drohen. Ich erlebe zunehmend verzweifelte Eltern, die vor allem eines nicht tun können: ihre Kinder aufgeben!

Für Sophie, für alle Sophies da draußen

Um weg von den Zahlen zu kommen, möchte ich euch heute von Sophie erzählen. Eigentlich gibt es Sophie gar nicht – und doch gibt es zigtausende Sophies. Die meisten 17- bis 18-jährigen Mädchen in Deutschland heißen Sophie. So wird Sophie zum Pseudonym für viele. Und vielleicht könnte Sophie auch Leon heißen. Allerdings spielt das Thema Essstörung in dieser Geschichte eine nicht unerhebliche Rolle, und Essstörungen sind tatsächlich eher ein weibliches Thema. Sophies Geschichte steht für so viele Geschichten und ist die Kombination aus tatsächlichen Schicksalen, die ich in den letzten Jahren kennengelernt habe – Schicksale, die mich so sehr berührt haben, dass ich sie auf diesem Weg gerne teilen möchte.

Zurück in eine andere Zeit

Ein wunderschöner Frühsommertag. Die Sonne scheint, und Sophies jüngere Schwester Marie tanzt die Choreografie ihrer Tanzgruppe wieder und wieder im Garten nach. Sophie schließt das Fenster, weil sie die Musik nicht hören möchte. Noch vor ein paar Monaten stand sie mit ihrer Schwester und zwölf anderen Mädchen auf der Bühne. Alles war gut, sie war glücklich. Sophies Schwarm Ben war auch im Publikum. Sophie war sich sicher, er hätte kurz zu ihr geschaut. Ihr Herz ist gehüpft. Ben ist zwei Jahre älter und auf ihrer Schule. Auf dem Schulhof hat sie mit ihren Freundinnen immer so gestanden, dass sie ihn beobachten konnte. Am Tag nach dem Auftritt hat Ben sie sogar gegrüßt. Das war der Tag, an dem Sophies Eltern schwarz auf weiß den Beleg im Briefkasten hatten, dass Sophie hochbegabt ist. Die Schule ist ihr schon immer erschreckend leicht gefallen. Während ihre Freundinnen lernen mussten, war Sophie eher gelangweilt, weil doch eigentlich alles so logisch war. Sophies Eltern waren an diesem Tag irgendwie stolz, aber auch etwas besorgt. In zwei Wochen wollte man sich mit Sophies Klassenlehrerin zusammensetzen, um zu besprechen, was das denn nun für Sophie bedeute. Zu diesem Gespräch kam es nicht mehr.

Alles so lang her, wie in einem anderen Leben! Sophie liegt auf ihrem Bett, starrt die Decke an. Sie spürt eine Träne auf ihrer Wange. Seit Wochen ist sie eingesperrt – kein Tanzen, kein Ben, keine Zeit mit ihren Freundinnen. Dafür sind ihre Eltern jetzt Tag und Nacht um sie herum. Und Marie. Eigentlich mag sie ihre Schwester. Sie sind ja auch nur knapp zwei Jahre auseinander und lieben es beide zu tanzen. Aber Marie nervt nur noch. Ihre Oma, der einzige Mensch, der sie gerade versteht, hat Sophie seit Monaten nicht mehr gesehen. Sie müsse Oma vor dem Virus schützen. Corona! Sophie hat das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben. Sie fühlt sich fremdbestimmt. Sie kann noch nicht mal in Ruhe aufs Klo gehen, weil ständig alle um sie herum sind.

Momentan schließt sie sich am liebsten ein, zieht sich in ihr kleines Reich zurück. Pubertät, denken sich ihre Eltern, und lassen Sophie allen Raum, den sie braucht – so gut das eben im Lockdown und einem Reihenhaus mitten in einer großen Stadt möglich ist. Seit Neuestem macht Sophie auch Diät, obwohl sie sportlich und normalgewichtig ist. Das gehört wohl dazu, wenn die kleine Tochter zu einem Teenager wird, der sich inzwischen auch für Jungs interessiert. Sophies Schwärmerei für Ben ist auch ihren Eltern nicht verborgen geblieben.

Sophie findet zunehmend Gefallen daran, ihre Ernährung zu kontrollieren. Sie setzt sich geradezu absurde Ziele: Heute nur einen Apfel und eine Scheibe Brot – über den Tag verteilt! Wenn sie sonst schon nichts kontrollieren kann, dann wenigstens sich selbst. Nur zu dumm, dass das Tanztraining schon so lange ausfällt. Wie viel schneller würde sie abnehmen, wenn sie noch Sport machen würde. So fängt Sophie an zu laufen – zunächst zwei- bis dreimal die Woche, irgendwann täglich. Es wird zu einem Zwang. Sie kann nicht mehr schlafen oder denken, wenn sie nicht läuft.

So gehen die Wochen ins Land. Homeschooling, dann mal wieder in der Schule, Masken tragen, Abstand halten. Sophies Freundin Lara muss keine Maske tragen. Sie hat ein Attest. Sophie möchte auch ein Attest. Ihre Eltern sagen, dass sie so etwas nicht machen würden. Man müsse sich in dieser Situation an die Regeln halten. Diese verdammten Regeln, die Sophie den Raum zum Atmen nehmen. Sie läuft und läuft, isst weniger und weniger. Der Druck ihrer Eltern ist ihr egal. Wenigstens zum Essen würde sie sich nicht zwingen lassen. Ben meinte kürzlich zu Sophie, dass sie ganz schön abgenommen habe. Sophie war stolz. Irgendwann würde sie so schlank sein, dass Ben die zwei Jahre Altersunterschied egal sein würden.

Die Monate gehen ins Land. Sophie wird immer müder, trauriger, teilnahmsloser. Wann würde das alles vorbei sein? Wann würde sie ihr Leben zurückhaben? Wahrscheinlich nie mehr. Selbst an Weihnachten konnte sie ihre Oma nicht sehen. Sie hat es akzeptiert, auch weil Laras Oma vor ein paar Wochen an Corona gestorben ist. Ihre Oma sollte nicht sterben. Also hält sie sich fern.

Es ist wieder Frühling, und Sophie sitzt beim Arzt. Kürzlich ist sie in der Schule zusammengebrochen. Sie sei magersüchtig. Na und, dann ist sie das eben. Ist doch ihr Leben. Ihr Untergewicht sei so besorgniserregend, dass sie sofort in eine Klinik müsse, hat der Arzt gesagt. Sophies Mama weint, ihr Papa ist verzweifelt, und Marie schreit Sophie an, dass sie essen solle. Sophie ist das egal. Sie ist wie taub. Sie spürt nichts mehr. Ist sie unglücklich? Ist sie glücklich? Sie ist. Und alles andere ist doch egal.

In der Klinik lernt Sophie Schritt für Schritt, ihren Sportzwang zu überwinden, ihren Körper wieder zu spüren und zu einer gesunden, angemessenen Ernährung zurückzukehren. Ihr Gewicht und ihr Essverhalten normalisieren sich, sie spürt, wie die Kraft in ihren Körper zurückkehrt, und sie friert auch nicht mehr den ganzen Tag. Im Prinzip eine positive Entwicklung. Was jedoch bleibt, sind diese dunklen Gedanken.

Irgendwann ist Sophie wieder zu Hause. Wie damals schließt sie sich am liebsten in ihrem Zimmer ein. Eigentlich könnte sie wieder zur Schule gehen. Sie hat aber keine Lust mehr. Die Klausuren schreibt sie noch mit, sogar mit ziemlich guten Noten, aber das ist ihr auch egal. Sie wollte eigentlich immer Sozialpädagogik studieren, aber irgendwie hat sie darauf keinen Bock mehr. Auch ihre Freundinnen nerven nur noch. Ständig stehen sie vor ihrer Tür, um sie aufzuheitern. Sophie will nicht aufgeheitert werden. Sie hat sich verloren – ihre Freude, ihr Glück, ihr Leben, alles. Eigentlich wäre es am besten, sie würde gar nicht mehr leben. Sie stellt sich immer ausführlicher vor, wie cool es wäre, einfach zu sterben. Dann wäre alles vorbei. Kürzlich stand sie bei ihrer Oma auf dem Balkon und hat sich vorgestellt, zu springen. Das wäre so schön …

Schwere Depressionen mit suizidalen Episoden hat sie jetzt. Ist ihr aber auch egal. Sie nimmt jetzt Medikamente. Die helfen ein bisschen, aber auch nicht so richtig. Sophie wird das Gefühl nicht los, ihr Leben erfülle ausschließlich die Erwartungen anderer. Ihre Therapeutin ist ganz nett, und es tut auch gut, mit ihr zu sprechen. Dafür ist ihre Psychiaterin eine blöde Kuh. Sie ist eiskalt und versteht Sophie nicht. Sie macht sich noch nicht mal die Mühe, ihr zuzuhören. Sophie geht hin, um ihre Medikamente zu bekommen. Sie würde lieber zu einem anderen Psychiater gehen. Ihre Eltern haben bereits in allen Praxen der Stadt angerufen. Keine Praxis könne sie derzeit als Patientin aufnehmen. Sophie versucht ihrer Psychiaterin wieder und wieder zu erklären, dass die Medikamente nicht mehr wirken, dass sie nicht mehr schlafen kann und der Schlafmangel sie wahnsinnig mache. Sie hört ihr noch nicht mal zu. Ihr ist es wohl egal.

So schleppt sich Sophie durch ihr Leben. Die Todesfantasien sind weniger geworden. Vielleicht auch, weil sie sich seit einiger Zeit an den Unterarmen ritzt. Natürlich sind ihre Eltern ausgeflippt, als es wieder Sommer wurde und sie Sophies Unterarme gesehen haben – voller Narben. Aber Sophie tut der Schmerz so gut. Manchmal ist es das Einzige, was sie spürt. Sie schaut, wie ihr Blut aus der Wunde quillt, und spürt für einen kurzen Moment, dass sie lebt und dass der Druck weg ist.

Inzwischen ist Sophie 16. Ihre Freundin Lara hat jetzt einen Freund. Tim. Ben hat auch eine Freundin, aber das ist Sophie egal. So hot war er eigentlich nie. Tim ist ganz nett. Kürzlich hatte er einen Joint mit in der Schule. Für Sophie war das ein fast heiliger Moment. Sie hat zweimal daran gezogen (und sich fast die Lunge rausgehustet), und plötzlich war zum ersten Mal seit Langem Ruhe in ihrem Kopf. Die nächste Schulstunde war so entspannt und gut, und in der Mittagspause ist sie eingeschlafen – sie, die seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr richtig schläft.

Es hat fast ein halbes Jahr gedauert, bis ihre Eltern mitbekommen haben, dass Sophie jeden Abend, wenn alle schon schlafen, in den Garten schleicht, um einen Joint zu rauchen. Danach kann sie so herrlich schlafen. Gut, sie kommt morgens auch nicht mehr richtig raus. In der Schule war sie deshalb schon lange nicht mehr. Ihre Eltern wollen, dass sie aufhört zu kiffen. Kann sie aber nicht, weil die blöde Kuh von Psychiaterin ihr keine anderen Medikamente verschreiben will.

Ihre Therapeutin empfiehlt einen stationären Aufenthalt wegen der schweren Depressionen. Ihre Psychiaterin überweist sie wieder an die Uniklinik – die kenne sie ja schon vom letzten Mal. Sophie möchte nicht in die Uniklinik. Es war ein furchtbar kalter Ort. Dort würden ihre dunklen Gedanken nur schlimmer werden. Ihrer blöden Psychiaterin ist das völlig egal. Es gibt eine Überweisung an die Uniklinik. Sophie sagt, sie würde lieber sterben, als in die Uniklinik zu gehen. Verzweifelt machen sich ihre Eltern selbst auf die Suche nach einer Klinik. Sie telefonieren sich durch ganz Deutschland, bis sie eine Klinik finden, die spezialisiert darauf ist, junge Menschen wie Sophie zu unterstützen. Man ist schon in den ersten Anamnesegesprächen, und Sophie ist seit Langem mal wieder so etwas wie zuversichtlich. Vielleicht wäre es ja doch ganz schön, irgendwann zu studieren, auszuziehen, ihr Leben zurückzubekommen. Gut, dafür müsste sie die Schule abschließen, was gerade nicht wirklich gut aussieht, weil sie eigentlich nie dort ist. Aber das würde sie sicher hinbekommen.

Als es fast so weit war, dass ihre Eltern sie in die Klinik in Norddeutschland gebracht hätten, wurde klar, dass Sophie nur aufgenommen werden würde, wenn sie ihren Cannabiskonsum komplett einstelle. Das kann sie aber nicht. Ohne Schlaf hat sie nicht die Kraft, das alles auszuhalten, und ihre Psychiaterin möchte ihr keine stärkeren Medikamente verschreiben, damit sie schlafen kann. Sie solle doch einfach aufhören zu kiffen. Außerdem würde Cannabis ja auch gar nicht so abhängig machen. Keine Ahnung hat sie, denkt sich Sophie.

Wieder hat sich Sophie in ihrem Zimmer eingeschlossen, starrt an die Decke, und eine Träne rollt über ihre Wange. Vor der Tür steht ihre weinende Mutter, die Sophie anfleht, sie reinzulassen. Ihr Papa versucht, alle zu beruhigen, und Marie spielt die neue Vorzeigetochter und hält sich aus allem raus. Eigentlich hat Sophie die Nase voll. Sie hat doch wirklich versucht, mit dem Kiffen aufzuhören – wirklich. Aber es geht nicht. Die Ängste werden in der Nacht zu groß. Die dunklen Gedanken werden zu laut, zu greifbar. Und gleichzeitig taucht manchmal ganz leise der Traum auf, zu studieren, glücklich zu sein, selbstbestimmt, frei – auch frei von all diesen Gedanken und Ängsten. Gerne auch von dem Zwang, Abend für Abend in den Garten gehen zu müssen, um einen Joint zu rauchen, um einschlafen zu können.

Ihre Mama tut ihr leid. So schließt Sophie dann doch die Tür auf. Sie schaut aus dem Fenster ins Leere, während ihre Eltern versuchen, einmal mehr einen neuen Weg zu finden. Auf die Suche nach einem neuen Psychiater möchten sie sich machen, gerne auch außerhalb ihrer Stadt. Was ist schon eine längere Autofahrt, wenn auf der anderen Seite Sophies Zukunft steht? Sie würde sie nie aufgeben, sagt Sophies Mama und versucht, sie in den Arm zu nehmen. Ihr Papa macht den Vorschlag, sich an eine Suchtberatung zu wenden. Ob das denn okay wäre für Sophie und ob Sophie vielleicht auch mitkommen würde?

Sophie wischt sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und dreht sich zu ihren Eltern um. Sie schaut noch immer ins Leere. Ja, sie würde mitkommen, und das würde schon alles passen. Dann schaut sie ihre Eltern direkt an und sagt:

„Ich lebe ja eh nur noch für euch.“

Angekommen in der Gegenwart

Heute ist Sophie fast 18, fast volljährig. Schon in einer Woche hat sie mit ihren Eltern einen Termin in der Suchtberatung. Wenn sie wolle, könne sie danach direkt in eine Entzugsklinik, damit der Cannabisentzug medikamentös begleitet werden kann – so, dass die Ängste und dunklen Gedanken Sophie nicht zu sehr überwältigen.

Im September hat sie einen Termin bei einem neuen Psychiater.

Sophie fehlt die Kraft zu hoffen, aber sie findet die Stärke, diesen Weg mitzugehen, doch noch nicht aufzugeben.

Sophies Eltern hingegen haben Hoffnung für alle drei. Sie sehen ihr kleines Mädchen, das inzwischen eine junge Frau geworden ist – eine wunderhübsche, hochintelligente, mutige und starke junge Frau, die sich irgendwo im Lockdown selbst verloren hat. Manchmal erlaubt sich Sophies Papa, wütend zu sein – wütend auf ein Gesundheitssystem und eine Gesellschaft, die damals im Lockdown alles von seiner Tochter abverlangt hat und die sich jetzt hinter der absurden Regel „Ohne Abstinenz keine stationäre Therapie“ versteckt, wo sein Mädchen doch so dringend diese Therapie braucht, um die Kraft zum Abstinentbleiben zu finden.

Was ist unsere Verantwortung?

Wie Sophie sitzen überall in Deutschland junge Menschen an der Grenze des Erwachsenseins, die sich, dabei die vulnerablen Gruppen zu schützen, so sehr verloren haben, dass sie nun selbst zu einer vulnerablen Gruppe geworden sind. Wie schützen wir diese Menschen nun? Wie sehr erschweren oder vereinfachen wir Zugang zu Hilfe und Unterstützung? Wie konsequent begleiten wir deren Weg zur Heilung? Würde man Sophies Eltern fragen: zu wenig. Und so bleiben Ressourcen, die wir als Gesellschaft so dringend brauchen, auf der Strecke. Nicht jede dieser Ressourcen ist wie Sophie hochbegabt, aber jede einzelne dieser Ressourcen, dieser Menschen, ist wertvoll und wichtig, weil sie es sind, die die Zukunft unserer Gesellschaft, unseres Landes und unserer Welt gestalten werden. Können wir es uns leisten, diese Menschen zurückzulassen – diese Menschen und mit ihnen ihre Familien?

Es sind nicht nur die erkrankten Kinder und Jugendlichen selbst, die betroffen sind. Auch deren Familien – Eltern, Geschwister – leiden, verzweifeln. Mein heutiger Artikel hat vor allem Sophies Perspektive, ihr Erleben im Fokus. Da dieses Thema so vielschichtig ist, wird es in zwei Wochen eine Fortsetzung geben, die die Perspektive von Anna und Michael, von Sophies Eltern, im Fokus haben wird.

Bis dahin wünsche ich euch eine gute Zeit und freue mich auf euer Feedback oder eure Erfahrungen mit diesem Thema.

Eure Constance