Persönlichkeit

Das Glück - ein scheuer, leiser Begleiter

Wenn das Jahr sich seinem Ende zuneigt, werden viele von uns stiller. Die Tage sind kürzer, die Nächte länger, und irgendwo zwischen Glühweinduft, Kerzenschein, Atemwolken in der kalten Luft und dem leisen Rieseln der ersten Schneeflocken beginnen wir zu reflektieren. Wir denken darüber nach, was war, was bleibt und was vielleicht erst noch kommen darf. In dieser Zeit drängt sich vielleicht auch bei dir die eine Frage immer wieder vorsichtig ins Bewusstsein: Bin ich glücklich? Glück ist ein scheues Konzept. Es lässt sich nicht herbeizwingen, es folgt keiner klaren Formel – und manchmal erkennt man es erst, wenn man innehält. Vielleicht ist gerade deshalb die Weihnachtszeit ein guter Moment, um dem Glück einmal ganz bewusst nachzuspüren.

Was ist Glück eigentlich? Ein Blick auf verschiedene Theorien

Glück begleitet die Menschheit, seit sie denken kann. Doch je nachdem, wen man fragt, zeigt es sich in ganz unterschiedlichen Farben. Hier sind vier unterschiedliche Herangehensweisen an das Glück:

1. Das hedonistische Glück – Freude im Moment

Die älteste Vorstellung von Glück findet sich in der Lebensfreude selbst. Epikur sprach davon, dass Glück aus Lust resultiere – nicht aus ausschweifendem Genuss, sondern aus innerem Frieden, aus den kleinen Freuden des Lebens: ein warmes Getränk, ein vertrautes Lächeln, der Duft nach frisch gebackenen Plätzchen. In dieser Sichtweise ist Glück etwas, das man spürt, unmittelbar und körperlich. Ein Moment, der im Herzen aufleuchtet.

2. Eudaimonia – Glück als gelingendes Leben

Aristoteles hingegen sah Glück weniger als Gefühl, sondern als Zustand des Gelingens. Für ihn war Glück das Ergebnis eines tugendhaften Lebens – eines Lebens, in dem wir das tun, was unserem inneren Wesen entspricht. Wir werden glücklich, wenn wir wachsen, sinnvoll handeln, unsere Potenziale entfalten und Verbundenheit erleben. Es ist das Glück, das sich nicht in Sekunden misst, sondern in Jahren. Es ist die Sinnhaftigkeit des eigenen Seins.

3. Positive Psychologie – Glück als Zusammenspiel

Die moderne Forschung sieht Glück heute als ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren:

  • positive Emotionen

  • Engagement

  • Beziehungen

  • Sinn

  • Erfolge und Zielerreichung

Glück entsteht demnach nicht aus einer Quelle, sondern aus einem harmonischen Zusammenspiel vieler Lebensbereiche – wie ein Chor, der nur dann berührt, wenn alle Stimmen zusammenklingen.

4. Glück als Balance – das ostasiatische Verständnis

In vielen östlichen Philosophien gilt Glück als Zustand der inneren und äußeren Balance. Nicht das Streben nach mehr macht glücklich, sondern das Loslassen – das Akzeptieren, was ist. Glück entsteht aus Harmonie: mit anderen, mit der Natur, mit sich selbst. Hier geht es nicht darum, Glück festzuhalten, sondern ihm Raum zu geben, damit es sich zeigen kann. Eine Vorstellung, die mit mir persönlich ganz besonders resoniert. Loslassen, Raum geben, Leichtigkeit…

Warum wir Glück oft dort suchen, wo es gar nicht wohnt

Vielleicht liegt die größte Herausforderung darin, dass wir Glück häufig mit etwas verwechseln, das viel lauter und glänzender wirkt: Erfolg, Besitz, Status, perfekte Lebensumstände. Besonders in der Vorweihnachtszeit, wenn Werbung und Erwartungen sich über uns legen wie eine glitzernde Decke, kann leicht der Eindruck entstehen: Wenn nur dieses oder jenes eintritt … dann wäre ich glücklich. Doch Glück ist selten ein Ergebnis von „Wenn-dann“-Konstellationen. Oft ist es eher wie ein kleiner Vogel, der sich in unsere Nähe setzt, während wir gerade mit etwas ganz anderem beschäftigt sind. Glück geschieht. Überraschend, leise, unaufgeregt.

Der vielleicht wichtigste Schlüssel: Zufriedenheit

Je mehr man sich mit Glück beschäftigt, desto klarer wird etwas: Glück ist weniger ein Gipfel, den man besteigt, sondern ein Boden, auf dem man steht. Zufriedenheit ist das Fundament dieses Bodens. Sie entsteht, wenn wir annehmen können, was ist – nicht resigniert, sondern friedlich. Wenn wir nicht ständig gegen das Leben anrennen. Wenn wir uns erlauben, auch im Unvollkommenen etwas Gutes zu sehen. Zufriedenheit bedeutet nicht, keine Ziele zu haben. Aber sie gibt uns die Freiheit, nicht ständig im Mangel zu leben. Sie schenkt Ruhe statt Rastlosigkeit. Und aus dieser Ruhe erwächst oft das, was wir Glück nennen.

Und dann ist da noch die Dankbarkeit

Vielleicht ist Dankbarkeit die zärtlichste Form von Glück. Dankbarkeit öffnet den Blick für das, was schon da ist, statt für das, was fehlt. Sie verwandelt Selbstverständliches in ein Geschenk:

  • ein vertrautes Gespräch

  • ein Dach über dem Kopf

  • Menschen, die uns wichtig sind

  • ein Moment der Stille

  • ein Ziel, das wir erreicht haben – oder eins, das uns noch trägt

Psychologische Studien zeigen immer wieder: Menschen, die Dankbarkeit bewusst praktizieren, sind nicht nur glücklicher, sondern auch resilienter, optimistischer und ausgeglichener. Doch auch ohne Studien spüren wir intuitiv: Dankbarkeit macht das Herz weich. Vielleicht ist sie sogar der leise Kern von Weihnachten selbst.

Glück in der Weihnachtszeit – ein persönlicher Gedanke

Gerade jetzt, am Ende des Jahres, dürfen wir uns bewusst machen, dass Glück nicht laut sein muss. Es muss nichts Spektakuläres passieren. Vielleicht zeigt sich Glück in genau diesen Momenten: in der Wärme eines Raums, in dem Menschen zusammenkommen. In einem Licht, das wir entzünden. Im Gedanken an jemanden, der uns wichtig ist. In der Erkenntnis, dass wir vieles nicht perfekt gemacht haben – aber das meiste mit ehrlichem Herzen. In der stillen Hoffnung, dass das kommende Jahr uns wieder Möglichkeiten schenkt, zu wachsen und zu lieben.

Und vielleicht – ganz vielleicht – liegt das größte Glück darin, dass wir nie aufhören müssen, es zu suchen.

Wenn wir uns für einen Moment erlauben, nicht höher, schneller, weiter zu wollen, sondern einfach da zu sein, dann öffnet sich manchmal ein warmes Fenster im Herzen. Dort sitzt das Glück. Ganz still. Ganz einfach.

Denn allzu oft finden wir das Glück unterwegs, nicht am Ziel…

Zum Abschluss

Vielleicht darf mein letzter Artikel vor Weihnachten ein kleines Geschenk an dich selbst sein: eine Erinnerung daran, dass Glück nicht irgendwo draußen wartet – sondern in den Momenten, in denen wir die Welt nicht verbessern wollen, sondern nur wahrnehmen. Ich wünsche dir, dass du in den kommenden Adventswochen genau solche Momente findest: Momente der Ruhe, der Nähe, der Dankbarkeit. Momente, in denen das Glück sich zeigt, ohne dass du es suchst.

Frohe Weihnachten – und einen Jahreswechsel voller warmer Augenblicke und Dankbarkeit. 🎄✨

Ich gehe jetzt in meine kleine Weihnachtspause, um mir Zeit zu nehmen, meinem ganz persönlichen Glück nachzuspüren. Ab dem 11. Januar bin ich wieder mit meinem Blog zurück. Ich freue mich, wenn du dann auch wieder dabei bist. Danke für ein verrücktes, anstrengendes, lehrreiches, erfolgreiches, glückliches Jahr, in dem mich – und vielleicht auch dich – dieser Blog begleitet hat.

Deine Constance

Glück…

Ein leiser, schüchterner Begleiter, der sich gerne versteckt und doch so oft präsent ist.

Hochsensibilität - Wenn sich die Welt ein wenig intensiver anfühlt

Es gibt Menschen, für die die Welt sich anfühlt wie ein besonders fein eingestelltes Mikrofon: Sie hören mehr Zwischentöne, sehen mehr Nuancen, spüren mehr Schwingungen als andere. Fast ein Fünftel der Bevölkerung besitzt diese feinere Wahrnehmungsantenne, die wir Hochsensibilität nennen. Doch Hochsensibilität bedeutet nicht nur Empfindsamkeit — sie bedeutet Tiefe. Es ist, als würde man im Leben nicht mit einem Standardradio unterwegs sein, sondern mit einem Gerät, das selbst schwache Signale empfängt. Man hört die Melodie deutlicher, aber eben auch das Rauschen.

Kindheit – Wenn die Welt zu groß, zu bunt, zu laut erscheint

Viele hochsensible Menschen erinnern sich an ihre Kindheit wie an einen Marktplatz: eine faszinierende Sammlung von Eindrücken, Geräuschen, Bewegungen — aber manchmal schlicht zu viel. Für ein hochsensibles Kind kann sich ein Schultag anfühlen, als wäre man durch einen Sturm gelaufen, während andere nur einen frischen Wind gespürt haben. Es sind Kinder, die leise beobachten, bevor sie handeln. Kinder, die Details wahrnehmen, die anderen entgehen: das angespannte Lächeln einer Lehrerin, die Unruhe eines Klassenkameraden, das Flackern einer Neonröhre, das andere nicht einmal bemerken. Sie denken viel und tief. Ein Satz, der andere nur kurz berührt, hallt in ihnen nach wie ein Klang, der langsam verklingt.

Wie man Hochsensibilität bei Kindern erkennen kann

Von außen wirkt ein hochsensibles Kind oft:

  • achtsam, beobachtend, eher ruhig

  • leicht überstimuliert, wenn es zu laut, zu chaotisch oder zu viel wird

  • perfektionistisch oder sehr gewissenhaft

  • empathisch, spürt Stimmungen anderer sofort

  • nachdenklich, manchmal „älter als sein Alter“

Manchmal wirken sie schüchtern, manchmal vorsichtig — doch eigentlich wägen sie tief im Inneren ab, was andere gar nicht bemerken.

Jugend – Der Seismograph unter Gleichaltrigen

In der Pubertät, wenn Gefühle bei allen Jugendlichen hochschlagen, wird die Welt für Hochsensible besonders intensiv. Sie sind Seismographen in einer Zeit voller Erdbeben — sie spüren Stimmungen früher als andere, feinste Veränderungen im Freundeskreis, Spannungen in Familien, unterschwellige Botschaften in Gruppen. Während viele Gleichaltrige Leichtigkeit suchen, suchen Hochsensible Tiefe: echte Verbundenheit statt flüchtiger Kontakte. Sie stellen sich Fragen, die andere erst Jahre später stellen. Manchmal fühlen sie sich wie Orchideen zwischen Sonnenblumen: nicht schwächer, nur anders, fein abgestimmt, intensiver abhängig von ihrer Umgebung und außergewöhnlich, wenn die Bedingungen stimmen.

Woran man Hochsensibilität in der Jugend oft erkennt

Jugendliche mit hoher Sensibilität sind häufig:

  • stark empathisch, oft die „Anlaufstelle“ für Freunde

  • konfliktsensibel, vermeiden unnötige Dramen

  • überfordert von zu viel sozialer Interaktion, brauchen Auszeiten

  • reflektiert, oft erstaunlich tiefgründig

  • verletzlicher, weil Kritik intensiver verarbeitet wird

Ihr Innenleben gleicht einem tiefen Meer: An der Oberfläche tobt vielleicht nur eine leichte Welle, doch in der Tiefe bewegt sich viel.

Erwachsenenalter – Wenn das feine Radio weiterklingt

Im Erwachsenenalter wird die akute Sensibilität nicht weniger — aber sie wird bewusster. Hochsensible Erwachsene wählen ihre Umgebung mit Bedacht. Sie mögen Arbeitsplätze, an denen sie denken dürfen, statt dauernd unterbrochen zu werden. Sie bevorzugen Beziehungen, die ehrlich, respektvoll und tiefergehend sind. Oberflächliche Kontakte fühlen sich für viele an wie lauwarmes Wasser: nicht schädlich, aber nicht nährend. Viele von ihnen geraten in Berufe, in denen ihre Wahrnehmung ein Vorteil ist: Coaching, Therapie, Führung, Kreativberufe, Wissenschaft, Sozialarbeit, IT. Die genaue Beobachtungsgabe, die emotionale Resonanz, die Fähigkeit, Muster zu erkennen, ist in vielen Bereichen Gold wert. Doch gleichzeitig zahlen sie bei zu viel Stress schnell einen Preis: Reizüberflutung, Erschöpfung, Burn-out-Neigung. Ein überfülltes Großraumbüro kann für sie das sein, was ein lauter Motor für jemanden mit empfindlichen Ohren wäre: ein ständiges Grundrauschen, das Energie zieht.

Woran man Hochsensibilität bei Erwachsenen erkennen kann

Hochsensible wirken oft:

  • aufmerksam, reflektiert, detailorientiert

  • authentisch, sie hassen leere Floskeln

  • loyal, manchmal über ihre Grenzen hinaus

  • stimmungssensibel, sie spüren Konflikte ohne Worte

  • gereizt oder erschöpft, wenn zu viele Reize gleichzeitig auf sie einwirken

Sie haben ein ausgeprägtes Radar für Zwischentöne — ein Radio, das Signale empfängt, die anderen entgehen.

Familiengründung – Zwischen Hingabe und Überforderung

Wenn Hochsensible selbst Eltern werden, beginnt ein neuer, intensiver Lebensabschnitt. Kinderlachen, nächtliches Weinen, alltägliches Chaos — für viele Hochsensible ist das wie ein Feuerwerk aus Emotionen: berührend, überwältigend, erfüllend, aber manchmal eben auch zu viel. Sie spüren jede Stimmung ihres Kindes, als wäre sie ihre eigene. Sie bemerken winzige Veränderungen: den leicht veränderten Tonfall, die Müdigkeit in den Augen, ein ungewohntes Verhalten. Ihre Fürsorge ist oft tief und intuitiv. Und zugleich fällt es ihnen schwer, abzuschalten. Ihr Nervensystem bleibt länger aktiv, ihre Gedanken arbeiten weiter, wenn das Kind längst schläft. Viele erleben sich auf einem Drahtseil zwischen Erschöpfung und emotionaler Intensität. Doch wenn sie lernen, ihre Grenzen zu schützen, entsteht ein besonderer Elternstil: warm, achtsam, liebevoll verbunden.

Die sichtbaren und unsichtbaren Spuren der Sensibilität

Zahlen helfen, die innere Welt objektiver zu betrachten: 15–20 % der Menschen sind hochsensibel — Männer und Frauen etwa gleich häufig. Es gibt deutliche Hinweise auf eine genetische Komponente, doch die Umgebung entscheidet, ob diese Sensibilität zur Stärke wird oder zur Belastung.

Hochsensible tragen oft die Tugenden, die man in einer lauten Welt zu selten findet:

  • Empathie

  • Kreativität

  • Tiefes Denken

  • Feinfühligkeit

  • Ein Gespür für Details

  • Wertorientierte Entscheidungen

Sie sind die Menschen, die zwischen den Zeilen lesen. Die die Welt nicht nur sehen, sondern fühlen. Die nicht nur reagieren, sondern verarbeiten. Die manchmal zu viel spüren — und doch unendlich viel geben können.

Fazit – Hochsensibilität ist keine Schwäche. Sie ist eine Kunst.

Hochsensibilität bedeutet nicht, dünnhäutig zu sein. Es bedeutet vielmehr, durchlässiger zu sein für die Welt. Tiefe statt Fläche, Resonanz statt Gleichgültigkeit, Wahrnehmung statt Abwehr. Hochsensible Menschen sind wie fein gestimmte Instrumente: Sie klingen reich und warm, wenn man sie respektvoll behandelt, und verstummen oder verzerren, wenn sie überfordert werden. In einer passenden Umgebung entfalten sie eine Schönheit, die kraftvoll und besonders ist. Sie sind Menschen, die mehr hören, mehr fühlen, mehr denken — nicht weil sie müssen, sondern weil sie es schlicht nicht anders können. Und genau darin liegt ihre Stärke.

Mit diesem Artikel zu Hochsensibilität beende ich nun meine Serie rund um das Thema Neurodiversität. Ich hoffe, es ist mir gelungen, euch in andere Welten mitzunehmen und ein wenig Werbung für wirkliche Vielfalt zu machen. Ich erinnere mich noch an meine NLP-Ausbildung, in der wir immer wieder darüber gesprochen haben, dass nicht das Verhalten hilfreich oder hinderlich ist, sondern dass die Umwelt, das Umfeld definiert, wie Verhalten bewertet wird. Ich gebe den Traum nicht auf, dass wir alle das Umfeld finden, in dem unser Verhalten, unsere Persönlichkeit ganz und gar als hilfreich betrachtet wird.

Wie immer freue ich mich auf euer Feedback und möchte mich gleichzeitig für die vielen Nachrichten in den letzten drei Monaten bedanken. Auch sie haben mich durch diese kleine Serie getragen.

Keine Sorge, mein Blog geht natürlich weiter. Und vielleicht habt ihr ja Wünsche, womit genau!

Eure Constance

Hochsensibel

Wenn die Welt ein wenig lauter klingt

"Elias, so wie du bist!" - Die Geschichte von Jana und Mark und ihrem Sohn mit ADHS

Damals und heute

Wenn Jana heute alte Bilder von Elias aus dem Kindergarten anschaut, lächelt sie. Ein kleiner Junge mit strahlenden Augen, immer in Bewegung, immer mit etwas beschäftigt, das eigentlich gar nicht die Aufgabe war. Und doch war da schon damals viel mehr: eine Wärme, ein feiner Humor, eine unverwechselbare Art, die Welt zu sehen. Damals ahnten Jana und Mark noch nicht, wie sehr dieser Junge ihr Leben verändern würde. Sie wussten nur: Elias war anders. Und sie wussten ebenso: Er ist ihr Sohn. Und sie lieben ihn – ganz und gar.

Das Gefühl, dass etwas nicht „passt“

Elias war von Anfang an ein lebhafter Junge. Schon als Kleinkind krabbelte er früher als andere, lief dafür später. Er lachte laut und unverhohlen, weinte aber genauso heftig.

Jana erinnert sich an die ersten Elternabende im Kindergarten. Da saßen Eltern, die von Bastelergebnissen ihrer Kinder erzählten. Von Malmappen voller bunter, akribisch ausgemalter Bilder. „Elias hat das Haus nicht ausgemalt“, hatte die Erzieherin einmal gesagt und Jana vorsichtig ein Blatt hingehalten: ein paar Striche, darüber ein wilder Strudel aus Farben.

Anderen Eltern hätte dieses Bild vielleicht als Desinteresse gegolten – Jana sah darin Energie. Welt. Gefühl. Die Erzieherin wohl nicht …

Und trotzdem: Da war etwas, das sie nicht einordnen konnten. Während die anderen Kinder saßen und aufmerksam zuhörten, rutschte Elias vom Stuhl, kletterte unter den Tisch, fing Gespräche an – mitten im Morgenkreis. Er störte nicht mit Absicht. Er war einfach. Einfach Elias.

Mark versuchte es pragmatisch zu sehen. „Kinder sind verschieden“, sagte er. „Er wächst da rein.“ Jana hoffte das auch. Doch mit jedem Kita-Jahr wuchs der Druck. Nicht, weil Elias „schlimm“ war. Sondern weil die Welt eine gewisse Form von Funktion erwartete – und Elias sich nicht in diese Form legen ließ.

Zwischen Liebe und Erschöpfung

Es gibt Sätze, die brennen sich ein.

„Wir schaffen es nicht mehr, Elias in der Gruppe zu halten.“

„Er braucht so viel Aufmerksamkeit.“

„Vielleicht sollten Sie das mal abklären lassen.“

Jana hat diesen Moment vor Augen, als wäre er gestern gewesen. Sie saß auf einem kleinen Holzstuhl im Gruppenraum, auf dem Teppich lagen Bauklötze und eine noch nicht ganz fertige Ritterburg. Elias drehte Kreise um sie herum – im wahrsten Sinne des Wortes. Sie fühlte sich wie eine schlechte Mutter. Als hätte sie versagt. Als müsse sie Elias erklären, rechtfertigen, verteidigen.

Mark nahm sie in den Arm, wenn die Tage besonders schwer waren. Aber auch er war müde. Müde von Gesprächen mit Erzieher:innen. Müde vom ständigen „Bitte konzentrier dich.“ Müde vom Gefühl, dass niemand wirklich sah, wie liebevoll, sensibel und einzigartig ihr Sohn war. Denn das war er: liebevoll. Wenn Jana traurig war, merkte er es sofort. Wenn Mark abends erschöpft nach Hause kam, setzte sich Elias ganz selbstverständlich zu ihm und legte seine Hand auf sein Knie.

Er fühlte alles – nur die Welt wusste nicht, wie man mit einem Kind umgeht, das so viel fühlt.

Der Weg zur Diagnose

Als Elias acht war, begann die Grundschule. Und damit wurde alles noch deutlicher. Hausaufgaben dauerten Stunden, wenn sie überhaupt gelangen. Sitzenbleiben am Tisch war nahezu unmöglich. Das Heft war voller Fehler, aber Elias konnte erklären, wie die Aufgabe zu lösen wäre – nur die Umsetzung stolperte über sein eigenes rasendes Denken. Die Klassenlehrerin schlug eine Diagnostik vor. Nicht hart, nicht vorwurfsvoll – sondern ehrlich, offen, mitfühlend. Das war neu. Und wichtig.

Die Untersuchungen dauerten Monate. Es gab Fragebögen, Tests, Gespräche. Dann saßen Jana und Mark in einem kleinen Raum. Der Arzt sprach ruhig: „Ihr Sohn hat ADHS. Das ist keine Schuld, keine Erziehungsfrage. Es ist eine Art, wie sein Gehirn Reize verarbeitet.“ Jana atmete zum ersten Mal seit Jahren anders. Nicht leichter, aber klarer. Sie hatte nicht versagt. Elias war nicht „falsch“. Er war anders verdrahtet. Mark nickte, still. Er hatte Tränen in den Augen. Manchmal ist eine Diagnose keine Last, sondern eine Entlastung.

Die Entscheidung für Medikamente

Und dann kam die nächste Entscheidung. Ein schwieriger Schritt. Medikamente. Ritalin. Es war keine schnelle Entscheidung. Es war ein Ringen. Nächte voller Gespräche zu zweit in der Küche. Stunden im Internet, in Foren – zwischen Hoffnung und Angst. Die Vorstellung, einem Kind Medikamente zu geben, fühlt sich im ersten Moment wie ein Verrat an. Doch die Frage wurde irgendwann sehr klar: Wird Elias damit mehr Freiheit haben? Mehr Raum für sich? Mehr Möglichkeit, seine Fähigkeiten zu entfalten?

Sie probierten es. Langsam, vorsichtig, begleitet von Ärzt:innen. Und dann passierte etwas, das sich nicht wie „Verändern“ anfühlte – sondern wie „Entlasten“. Elias konnte plötzlich sitzenbleiben, lange genug, um sein Eisenbahnmodell fertigzubauen. Er konnte in der Schule zuhören, ohne innerlich zu überrennen. Er lachte weiterhin laut, er spielte weiterhin wild – aber es wirkte, als hätte jemand die Welt ein kleines Stück leiser gemacht. Nicht er wurde leiser. Die Welt um ihn herum wurde nur weniger laut.

Leben mit ADHS: Sorgen, Liebe, Zukunft

Heute ist Elias 14. Ein Teenager voller Ideen, Witz und einer Fantasie, die manchmal größer scheint als die Welt selbst. Er liebt Musik, baut komplexe Welten in Computerspielen, erklärt seinen Eltern Theorien, die er irgendwo zwischen YouTube, Physikunterricht und Sternenbeobachtung gesammelt hat. Er ist immer noch schnell. Er ist immer noch intensiv. Er ist immer noch Elias. Und Jana und Mark machen sich immer noch Sorgen. Wie wird die Pubertät sein? Wie wird er sich in einer Welt zurechtfinden, die oft Menschen bevorzugt, die linear denken, planvoll, leise?

Aber sie haben etwas gelernt: Elias muss nicht „funktionieren“, um richtig zu sein. Er muss leben dürfen. Er muss gesehen werden. Er muss geliebt werden – und das wird er.

Was man manchmal vergisst: ADHS ist keine Störung im Herzen. Keine Störung im Charakter. Keine Störung der Liebe. Es ist eine andere Art, die Welt zu fühlen, zu denken, zu reagieren. Und Elias ist nicht weniger. Er ist nicht zu viel. Er ist nicht falsch. Er ist ihr Sohn. Und in ihren Augen ist er perfekt.

Wenn Jana Elias abends ins Zimmer sieht, während er mit Kopfhörern Musik hört und gedankenverloren Skizzen zeichnet, lächelt sie. Sie weiß: Der Weg war nicht leicht. Und er wird weiterhin Kurven haben.

Aber sie weiß auch: Sie gehen diesen Weg zusammen.

Mit Liebe.

Mit Geduld.

Mit Hoffnung.

Und mit Elias.

So, wie er ist.

Zahlen, Daten, Fakten

Inzwischen wird ADHS nicht mehr zu den psychischen Störungsbildern gezählt, sondern als besondere neurobiologische Ausprägung eingeordnet, die wir heute unter dem Überbegriff der Neurodiversität subsummieren.

Ursächlich ist nach aktuellem Stand der Forschung eine Abweichung (wichtig: keine krankhafte Abweichung) in der Regulation des Hirnnetzwerks im präfrontalen Cortex. Die Veranlagung ist zu 60 bis 80 Prozent erblich.

Betroffen sind bis zu sieben Prozent aller Kinder und Jugendlichen weltweit, wobei man inzwischen von einer nicht unerheblichen Dunkelziffer insbesondere bei Mädchen ausgeht, da diese ausgeprägte Strategien entwickeln können, um die Symptome zu maskieren.

Aktuell werden etwa viermal mehr Jungen als Mädchen diagnostiziert. Die neueste Forschung geht jedoch davon aus, dass ebenso viele Mädchen mit ADHS leben.

Typische Symptome sind:

  • Unaufmerksamkeit (Vergesslichkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Ablenkbarkeit, Gedankenspringen)

  • Hyperaktivität (innere Unruhe, Bewegungsdrang und bei Erwachsenen häufig nach außen nicht sichtbarer innerer Druck)

  • Impulsivität (mangelnde Impulskontrolle)

Die Behandlung fußt im Idealfall auf drei Säulen:

  • Medikamente (Ritalin bzw. Methylphenidat ist hierbei das bekannteste, jedoch nicht das einzige Medikament)

  • Psychotherapie (vor allem verhaltenstherapeutische Ansätze)

  • Strukturhilfen bzw. Coaching (insbesondere im Erwachsenenalter)

In einigen, jedoch nicht allen Fällen lässt die Symptomatik bis zum Erwachsenenalter nach.

Insbesondere bei fehlender Diagnose besteht eine hohe Komorbidität zu psychischen Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen, Suchterkrankungen, Essstörungen sowie Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Und zum Abschluss noch ein Fun Fact: Viele Menschen mit ADHS haben eine hohe Kreativität, Innovationsfähigkeit und eine herausragende Problemlösungsflexibilität – wenn sie passende Umgebungen und Strukturen vorfinden.

Und wieder wird deutlich: Das Problem ist nicht der Mensch – sondern das Umfeld.

Ich freue mich wie immer über Feedback, Fragen und Anmerkungen zum Thema.

Eure Constance

Gemeinsam - mit Liebe und Akzeptanz