Persönlichkeit

Anna und Michael: Wenn sich das eigene Kind verliert - psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen

Wie im Märchen

Anna rutscht etwas tiefer in den großen grauen Sessel. Neben ihr sitzt Michael, ihre Jugendliebe. Es war wie im Märchen: Nach dem gemeinsamen Abi wurde gemeinsam studiert. Er Informatik, sie Publizistik. Die ersten Jobs, die erste gemeinsame Wohnung, das erste Kind, Sophie. Ein Reihenmittelhaus in einem ruhigen Teil der Stadt, das zweite Kind, Marie. Anna hat recht schnell nach Maries Geburt wieder angefangen zu arbeiten – in Teilzeit. Ihre Mutter, die ganz in der Nähe wohnt, hat bei der Betreuung unterstützt. Ihre Töchter waren wunderbar, Michael war wunderbar. Anna lebte das Leben, das sie sich immer vorgestellt hatte. Es war perfekt.

Verrückt eigentlich, dass dieses Märchen sie nun in die Praxis eines Paartherapeuten geführt hat. Michael sitzt im grauen Sessel neben Anna. Er sieht müde aus, denkt Anna, als sie zu ihrem Mann schaut.

„Ihre familiäre Situation, die Sorge um Ihre Tochter, stellt natürlich eine besondere Herausforderung für Ihre Paarbeziehung dar“, fasst der Therapeut zusammen und reißt Anna aus ihren Gedanken.

Eigentlich verrückt, dass Märchen so eine Wendung nehmen, denkt Anna, als sie die Praxis verlassen, um zum Auto zu gehen. Draußen scheint die Sonne. Ein wunderschöner Frühsommertag.

Zurück auf Anfang

Was ist passiert, dass aus dem Märchen eine Situation wurde, die Anna und Michael manchmal einfach nicht mehr aushalten können – und sie doch aushalten müssen? Es fühlt sich wie in einem anderen Leben an. Noch sehr gut erinnern sich Anna und Michael an den Tag, als der Brief im Briefkasten lag, der schwarz auf weiß bestätigte, dass ihre wunderhübsche und fröhliche Tochter Sophie hochbegabt ist. Sie waren so stolz und gleichzeitig auch besorgt. Sofort vereinbarten die beiden ein Gespräch mit Sophies Klassenlehrerin, um zu besprechen, was das denn nun bedeutet, wie man Sophie am besten fördern könnte. Zu diesem Termin kam es nie. Plötzlich war Lockdown – und alles war anders. Sophie zog sich immer mehr zurück. „Pubertät“, dachte sich Michael, während Anna wieder und wieder versuchte, an ihre Große ranzukommen. Wieder und wieder prallten ihre Bemühungen an Sophie ab, wie dieser kleine Ball beim Squash an der Wand. Sophie hörte auf zu sprechen, fing wie besessen an, Sport zu machen, zu laufen, Tag für Tag, Kilometer für Kilometer. Beim Essen gab es nur noch Streit, weil Sophie plötzlich eine strenge Diät hielt. Vorbei waren diese typischen Abendessen im Familienkreis, während denen man sich über den Tag austauschte. Es ging nur noch um Sophies Essverhalten – oder eher um ihre Weigerung, Nahrung zu sich zu nehmen. Für gewöhnlich endeten die Abende so, dass die Mädchen sich in ihre Zimmer zurückzogen, Michael saß allein auf der Couch und starrte ins Leere, und Anna weinte heimlich im Bad.

„Sophie ist doch magersüchtig“, sagte Annas Freundin. „Du musst dafür sorgen, dass sie mehr isst. Das kann doch nicht gesund sein. Sie wird ja immer weniger!“

Anna fühlt sich unfähig – als Mutter, als Mensch. Wieso gelingt es ihr nicht, auf ihre Tochter aufzupassen? Was für eine Mutter ist sie, wenn sie nicht verhindert, dass ihre Tochter vor ihren Augen immer kränker wird? Fast jede Nacht liegt Anna wach. Sie spürt, dass auch Michael wach ist. Sie liegen schweigend nebeneinander – zusammen und doch jeder für sich. Auch tagsüber sind sie immer zusammen – und doch bleibt jeder für sich. Sie arbeiten nun beide im Homeoffice, was in deren Fall bedeutet, dass Anna mit dem Laptop im Schlafzimmer sitzt und Michael im Wohnzimmer. Irgendwie ist es schön, diese Nähe, aber irgendwie sorgt sie wieder und wieder für Konflikte – untereinander, aber auch mit Sophie. Vor allem mit Sophie. Marie läuft so mit, macht keinen Ärger, fällt eigentlich nicht auf. Vielleicht ist da auch gar kein Platz mehr für Marie, weil Sophies Schwere und Traurigkeit das ganze Haus füllt. Diese Traurigkeit legt sich wie eine Lehmschicht auf das gesamte Leben der Familie.

Irgendwann dürfen die Mädchen zurück in die Schule. Michael ist erleichtert. Nun wird alles besser. Anna ist besorgt, weil sie nun ja gar nicht mehr mitbekommt, was Sophie noch isst.

Es war an einem Donnerstag, als die Schule bei Anna anrief. Sophie sei zusammengebrochen, man habe einen Krankenwagen gerufen. Anna spürt, wie ihr das Blut in die Beine sackt. Ihr ganzer Körper zittert. Ihr Brustkorb fühlt sich an wie in einem Schraubstock. Sie kann nicht mehr atmen. Anna ist am Boden zerstört, aber sie ist nicht überrascht. Sophie hat sich über Monate geweigert, zu einer Therapie zu gehen. Sie hat gelogen, getrickst, geschummelt. Immer wieder gab es Streit zwischen ihr und Michael, weil sie Sophie doch auch nicht zum Essen zwingen können. Sie waren in einer Beratung für Eltern und haben gelernt, dass es bei Magersucht um Kontrolle geht – dass Sophie das Letzte kontrolliert, was ihr vor dem Hintergrund von Corona und Lockdown gefühlt noch geblieben ist: ihren Körper. Das Wissen um die Ursache verbessert die Situation jedoch nicht.

„Was ist, wenn sie stirbt? Was ist, wenn sie sich zu Tode hungert?“ Michaels Stimme ist fast nicht hörbar. Ihm läuft eine Träne über das Gesicht, während er sich versucht, auf den Verkehr zu konzentrieren.

Im Krankenhaus angekommen gibt es zunächst Diskussionen, ob denn überhaupt beide zu Sophie dürfen – wegen der Corona-Maßnahmen. Michael ist kurz davor zu schreien. Er will doch einfach nur zu seinem kleinen Mädchen. Schließlich kommt die behandelnde Ärztin. „Ihrer Tochter geht es den Umständen entsprechend gut. Sie ist stabil, aber sie ist sehr krank.“ Michael hört jedes einzelne Wort – und ist doch woanders. Er sieht die feinen Muster auf dem Boden und den goldenen Ehering, den die Ärztin an einer Kette um den Hals trägt. Er hört, wie Anna sich versucht zu verteidigen: „Wir haben wirklich alles versucht, alles. Sophie weigert sich zu essen, sie weigert sich, zu einer Therapie zu gehen. Wir können sie doch nicht zwingen.“ Anna bricht in Tränen aus. Die Ärztin streicht ihr liebevoll über die Schultern.

„Kann ich Sophie jetzt sehen?“ Michaels Stimme ist auf einmal ganz fest – und plötzlich steht er vor seiner Kleinen, vor einem Bett mit gelb-weißer Bettwäsche. Sophie sieht unendlich dünn aus, blass. Sie schaut ihn mit leeren Augen an und wirkt dabei unendlich verloren. „Papa, ich will nach Hause. Mir geht’s gut!“

Es ist der Beginn einer scheinbar endlosen Reise durch das Gesundheits- und Therapiesystem Deutschlands. Neben Magersucht und Sportzwang werden zunächst auch mittelschwere Depressionen diagnostiziert. Allerdings haben Magersucht und Sportzwang in der Behandlung Vorrang. Sophie ist zunächst acht Wochen in der Klinik zur akuten Behandlung und danach fast ein halbes Jahr in einer Fachklinik, die auf die Behandlung von Magersucht spezialisiert ist. Sie nimmt langsam zu, ihr Essverhalten normalisiert sich, und auch der Zwang zu laufen wird weniger. Michael ist erleichtert. Anna nicht. Sie sieht, wie ihre Tochter zwar zunimmt, gleichzeitig nimmt sie jedoch auch wahr, dass Sophie mit jedem Kilo trauriger, leerer, hoffnungsloser zu werden scheint. Als sie am Tag der Entlassung zu Hause angekommen sind, hat Marie einen Kuchen gebacken. Sophie geht wortlos an ihr vorbei, verschwindet in ihrem Zimmer und starrt an die Decke.

Einige Monate später steht Sophie gedankenverloren auf dem Balkon ihrer Oma im fünften Stock. Es ist bitterkalt. Als Anna Sophie fragt, ob sie denn nicht reinkommen möchte, schaut Sophie durch sie hindurch und sagt nur: „Ich sollte springen, dann wäre endlich alles vorbei.“ Anna steht da, wie gelähmt …

Die neue Diagnose heißt: schwere Depressionen mit suizidalen Episoden. Michael sitzt auf einem Stuhl im Garten. Es hat geschneit. Er sitzt da und kann den Schmerz in seiner Seele nicht mehr ertragen. Er spürt, wie sein Herz bricht, während er Sophie so leiden sieht. Die Traurigkeit und Verzweiflung seiner Tochter machen auch ihn immer trauriger, verzweifelter. Die neuen Medikamente helfen ein wenig. Die Psychiaterin sagt, dass sie Kindern und Jugendlichen keine stärkeren Präparate verordnen dürfe. So ist Sophie gefangen im Nirgendwo.

Es war Ostern, als Sophies Oma Anna besorgt zur Seite nahm. Sie habe lauter Narben an Sophies Unterarmen gesehen. Ob sie wohl doch noch einmal versucht habe, sich das Leben zu nehmen?

„Schieb die Ärmel hoch, Sophie! Jetzt, sofort!“ Sophie war erschrocken. So hat ihr Papa sie noch nie angeschrien. Also schob sie die Ärmel ihres grünen Wollpullis nach oben, und zum Vorschein kamen zahllose Narben an beiden Unterarmen. „Spinnst du?“ Marie schreit Sophie aus voller Lunge an und rennt weinend in ihr Zimmer. Anna nimmt sie in den Arm und fragt nur leise, warum sie das tue.

„Keine Sorge, ich versuche mir nicht das Leben zu nehmen. Manchmal wird der Druck so groß. Und dann hilft das. Wenn ich schneide und wenn das Blut langsam rausläuft, entspannt das. Es tut irgendwie gut. Ich kann das nicht erklären. Aber ich will nicht sterben. Ich habe das im Griff. Macht euch keine Gedanken.“

In der Selbsthilfegruppe für Angehörige psychisch Kranker bekommen Anna und Michael eine ähnliche Erklärung – ein Ausdruck inneren Schmerzes, kein Ruf nach Aufmerksamkeit, sondern eine Möglichkeit, sehr starke Gefühle wie innere Leere, Wut oder Trauer zu regulieren, keine Suizidabsicht. Aber auch das beruhigt nicht, wenn sich die eigene Tochter wieder und wieder mit Rasierklingen die Unterarme aufritzt.

Die Psychiaterin möchte Sophie gerne wieder einweisen – in die Klinik, die Sophie bereits kennt. Doch dort möchte sie, die inzwischen 17 Jahre alt ist, auf keinen Fall mehr zurück. Jede andere Klinik würde sie ausprobieren, aber nicht noch einmal dorthin. Die Ärztin weigert sich, Sophie an eine andere Klinik zu überweisen. Zu Hause gibt es zunächst Streit, weil Michael nicht versteht, warum Sophie sich so querstellt. Sophies Oma vermittelt schließlich und macht sich gemeinsam mit Anna auf die Suche nach einer anderen Klinik. Tagelang telefonieren sie sich durch Deutschland. Währenddessen scheint es Sophie wenigstens ein bisschen besser zu gehen. Allerdings wird es von Tag zu Tag schwerer, Sophie zu motivieren, in die Schule zu gehen. Insbesondere morgens ist sie sehr erschöpft und müde. Trotz ihrer langen Krankengeschichte sind Sophies Noten nach wie vor gut. Hochbegabung! Da war doch was. Allerdings haben die Fehltage so zugenommen, dass die Schule droht, ihr kein Zeugnis mehr ausstellen zu können.

Für Anna und Michael ist es eine Gratwanderung – zwischen dem Druck, den sie als Eltern in dieser Situation gefühlt auf Sophie ausüben müssen, um ihre Zukunftschancen zu wahren, und der Sorge, dass der Druck so groß sein könnte, dass sie wieder kränker werden, endgültig den Boden unter den Füßen verlieren oder doch Selbstmord begehen könnte.

Es ist Sommer. Anna kann mal wieder nicht einschlafen und geht in die Küche, um etwas zu trinken. Die Terrassentür ist offen. Als Anna sie schließen will, fällt ihr ein süßlicher Geruch auf – und Sophie, die im Schein einer Straßenlaterne in der hintersten Ecke des Gartens hockt. Anna traut ihren Augen nicht. Da hockt ihre Kleine und raucht einen Joint. „Was um alles in der Welt tust du da?“, schreit Anna sie an. „Bist du wahnsinnig? Mit deinen Medikamenten? Du kannst doch nicht kiffen. Das ist gefährlich.“

Vom Geschrei wird Michael wach und kommt ebenfalls in den Garten. Sophie erklärt, dass der Joint vorm Einschlafen die fiesen Stimmen in ihrem Kopf zum Schweigen bringe. Sie könne sich dann endlich entspannen. Die Medikamente wirkten ja nicht mehr, und die „blöde Kuh von Psychiaterin“ wolle ihr ja nichts anderes verschreiben. Seit einem guten halben Jahr rauche sie nun schon Abend für Abend, und es tue ihr gut.

Michael schläft in dieser Nacht gar nicht. Was ist er für ein Vater, der ein halbes Jahr lang nicht mitbekommt, dass seine Tochter kifft? Wieder und wieder versagt er. Er schafft es einfach nicht, auf sein kleines Mädchen aufzupassen.

Seit diesem Tag muss Sophie sich nicht mehr verstecken, wenn sie abends ihren Joint raucht. Anna und Michael fühlen sich hilflos, machtlos. Natürlich sollte Sophie keine Drogen konsumieren, aber sie braucht sie, um die Depressionen im Griff zu behalten. Sollten sie Sophie das verbieten? Und überhaupt – wie sollte man ein Verbot bei einer fast 18-Jährigen durchsetzen? Immerhin scheint es ein wenig bergauf zu gehen. In Norddeutschland gibt es eine Klinik, die Sophie aufnehmen möchte. Man ist bereits in den virtuellen Diagnosegesprächen, als der nächste Rückschlag kommt: Solange Sophie Cannabis konsumiert, kann vor dem Hintergrund dieser Suchterkrankung keine abschließende Diagnose des weiteren Krankheitsbildes durchgeführt werden – und ohne Diagnose keine stationäre Aufnahme. Das sind die Regeln! Das könne man auch aufgrund der Krankenkassen und deren Vorgaben nicht anders machen. Alle sind am Boden zerstört. Sophie hatte langsam angefangen zu hoffen – zu hoffen auf ein normales, gesundes, unabhängiges und vor allem glückliches Leben.

Die Psychiaterin meinte nur, Sophie solle eben einfach aufhören zu kiffen. Aber Sophie kann nicht. Sie braucht die Therapie, um stabil genug zu werden, damit sie dann auch ohne Joint schlafen kann. Warum versteht das denn niemand?

Michael hat über die Jahre gelernt, nicht mehr wütend zu sein. Er hat gelernt, das Leben anzunehmen und im Rahmen seiner Möglichkeiten zu gestalten. Aber es gibt Momente, da wird die Wut so groß, dass er nicht weiß, wohin damit. Seine Tochter, sein kleines Mädchen, hat damals aus Rücksicht auf diese vulnerablen Gruppen auf so viel verzichtet, dass sie daran zerbrochen ist. Heute ist sie vulnerabel – höchst vulnerabel. Wer nimmt denn nun auf sie Rücksicht? Wer hilft Sophie? Wer hilft ihnen?

Anna und Michael sitzen wieder am Telefon. Sie suchen Rat, Hilfe, einen neuen Psychiater – vielleicht auch ein bisschen ein Wunder. Wie schön wäre es, wenn es für betroffene Eltern eine Art Checkliste gäbe. Aber nein, sie müssen sich selbst kümmern, recherchieren, suchen, fragen. Die Antworten sind ähnlich: Ohne „Abstinenznachweis“ keine Therapie. So landen sie schließlich bei der Suchtberatung. Die Dame am Telefon ist nett, verständnisvoll. Sie sucht nach einer Lösung und lädt schließlich zu einem Beratungsgespräch ein und stellt Kontakt zu einer Einrichtung her, in der Sophie direkt ihren Entzug beginnen kann, bei dem parallel ihre Medikamente so angepasst würden, dass der Entzug für sie machbar würde. Ein kleines Leuchten am Horizont.

Die Dame in der Beratungsstelle erklärt, dass es wichtig wäre, Sophie in die Planung und die nächsten Schritte mit einzubeziehen. Man muss ihr das Gefühl der Selbstbestimmung geben – erstens, weil sie ja nun schon fast erwachsen sei, aber auch vor dem Hintergrund der überwundenen Magersucht.

Anna und Michael stehen mal wieder vor Sophies verschlossener Zimmertür und flehen sie an, aufzumachen. Man hätte noch eine Idee, noch eine Möglichkeit. Sophie öffnet und legt sich auf ihr Bett. Sie starrt an die Decke, und eine Träne läuft ihr über die Wange. Ihre Eltern erklären ihr die Möglichkeit einer Suchtberatung und eines Entzugs. Es ist ein letzter Strohhalm, an den sich Anna und Michael verzweifelt klammern.

„Würdest du mitkommen, zu einer ersten Beratung? Du darfst danach auch wirklich selbst entscheiden, wie es weitergeht. Aber lass es uns doch mal probieren. Bitte.“ Annas Stimme klingt fast flehend. Sie kann ihre Tochter nicht aufgeben. Es ist doch ihr Kind. Ihr talentiertes, wundervolles Kind.

Sophie nickt. Anna und Michael sind erleichtert. Dann schaut Sophie sie direkt an, abwechselnd schaut sie ihren Eltern in die Augen und sagt mit fester Stimme:

„Ich lebe doch eh nur noch für euch.“

Anna und Michael wollen nicht aufgeben, aber dieser Satz ist wie ein Stich ins Herz. Gnadenlos, schmerzhaft, entwaffnend und offen.

Zurück im Hier und Jetzt

Der Termin in der Suchtberatung ist in zehn Tagen. Die Beraterin war froh, ihnen ob der Umstände einen so schnellen Termin anbieten zu können. Auch einen neuen Psychiater haben sie gefunden. Zwar etwas weiter weg, aber das ist egal. Der erste Termin ist im September. Früher war nichts mehr frei. Aber hey, die Zeit bis dahin würden sie auch überbrücken. Sie würden das schon schaffen – für Sophie. Und parallel müssen sie aufpassen, sich selbst nicht zu verlieren. Und Marie – was ist eigentlich mit Marie?

Gestern kam noch eine Mail von der Suchtberaterin, die sich freut, dass Sophie sich bereit erklärt hat, mitzukommen. „Ihre Tochter ist ein großartiges Mädchen. Es muss sie viel Kraft und Mut kosten, nicht aufzugeben und sich wieder und wieder ihren Themen zu stellen. Seien Sie stolz auf sie.“

Michael kommen die Tränen, als er das liest. Ja, er darf nicht vergessen, wie stark und mutig Sophie ist. Sie gibt nicht auf. Sie kämpft. Wie hart, wie schwer, wie anstrengend dieser Kampf für seine Tochter sein muss, kann Michael nur erahnen. Depression bedeutet, an einer Krankheit zu leiden, die man nicht sehen kann. So kann man auch Sophies Kampf nicht sehen – und doch findet er statt, Tag für Tag, Minute für Minute, Sekunde für Sekunde.

Solltet auch ihr selbst gegen diesen unsichtbaren Dämon kämpfen – oder gibt es liebe Menschen um euch herum, die diesen Kampf aufgenommen haben –, findet ihr auf der Homepage der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention deutschlandweite Anlaufstellen für Betroffene, Angehörige, Lehrer und Firmen. Keiner muss diesen Kampf allein angehen.

Ich freue mich auch dieses Mal über euer Feedback und eigene Erfahrungen mit diesem Thema.

Eure Constance

Nur nicht loslassen

Nicht aufgeben! Sich nicht verlieren….

Psychosen - Wenn die Seele die gelb-rote Karte zeigt

Psychosen – Das große Tabu?

Ich habe seit dem Amoklauf in Mannheim überlegt, ob ich mir für diesen Blog nicht lieber ein anderes Thema suchen sollte. Schon vor zwei Wochen, als ich mich mit dem Thema psychisches Trauma bzw. Traumatherapie beschäftigt habe, habe ich mir vorgenommen, im nächsten Artikel mit dem Thema Psychosen daran anzuknüpfen. Ich habe mich entschieden, mich trotz Mannheim mit dem Thema Psychosen zu beschäftigen. Nicht erst, seit ich mich in einer psychotherapeutischen Ausbildung befinde, frage ich mich wieder und wieder, warum psychische Erkrankungen ein gefühltes gesellschaftliches Tabu darstellen. Seit ich mich im Rahmen meiner Weiterbildung quasi professionell mit dem Thema psychischer Erkrankungen beschäftige, ist das Fragezeichen in meinem Kopf nur noch größer geworden. Ich bin erstaunt, wie viele von uns früher oder später an einem psychischen Krankheitsbild leiden und wie wenig darüber gesprochen wird.

Eine handfeste Psychose taucht ausgesprochen selten aus dem Nichts auf. Sie kündigt sich häufig an, und natürlich gibt es Frühwarnsymptome, über die sich in vielen Fällen gegensteuern lässt. Allerdings habe ich das Gefühl, dass diese Symptome einerseits ausgesprochen schambehaftet sind und Betroffene versuchen, die Situation auszusitzen, oder Betroffene wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen oder können. Psychotherapeutische Beratungs- und Behandlungsangebote sind in Deutschland, gemessen am Bedarf, ein rares Gut. Umso wichtiger ist es, dass wir diese Formen der Erkrankungen aus der Schmuddelecke holen und aufhören, Menschen zu stigmatisieren – mit völlig realitätsfernen Bildern von „Verrückten“ im Kopf, die man zeitlebens einsperren muss, weil sie gefährlich sind.

Etwa 3 von 100 Menschen erleben in ihrem Leben mindestens eine psychotische Episode. Diese tritt zum Beispiel im Rahmen von sogenannten affektiven Störungen auf, das heißt bei depressiven oder manischen Episoden oder deren Wechsel, den wir als bipolare Störung bezeichnen. Aber auch im Kontext einer Schizophrenie, an der etwa 1 Prozent der Weltbevölkerung leidet, oder im Zusammenhang mit Traumata und (posttraumatischen) Belastungsstörungen sowie durch den Konsum von Drogen und Alkohol oder im Kontext von Drogen- und Alkoholentzug tauchen psychotische Episoden oder Psychosen auf.

Viele Menschen erleben tatsächlich nur eine einzige psychotische Episode im Leben, während andere chronisch betroffen sind. Risikofaktoren wie genetische Veranlagung, erlittene Traumata und Drogenkonsum können das individuelle Risiko erhöhen.

Aber was ist denn eine Psychose überhaupt?

Man sagt, dass eine Psychose eine schwere psychische Störung ist, die das Denken sowie das Erleben und die Wahrnehmung der Realität beeinträchtigt. Im Kontext von Psychosen treten Wahnvorstellungen – also bizarre und unveränderbare Überzeugungen – und Wahrnehmungsstörungen wie optische oder akustische Halluzinationen (die oft benannten Stimmen oder weißen Mäuse) auf. Auch das Bewusstsein und die Selbstwahrnehmung können sich verändern.

Diese veränderte Selbstwahrnehmung äußert sich zum Beispiel über das Gefühl, dass meine Gedanken nicht mehr mir gehören: Sie werden mir zum Beispiel von außen eingegeben, jeder kann sie hören, oder sie werden aus mir herausgesaugt. Oder darüber, dass ich mich selbst fremd und sonderbar fühle oder sich meine Umwelt unwirklich und fremd anfühlt – insgesamt ein Zustand, der sicher große Angst macht.

Und woher kommt eine Psychose?

In der Literatur findet man die Aussage, dass Psychosen meist eine multifaktorielle Ursache haben. Das heißt, im Prinzip weiß man es nicht so ganz genau und geht von einer Kombination verschiedener Ursachen aus. Eine Ausnahme bilden hierbei organisch verursachte Psychosen, die zum Beispiel durch Infektionen und Entzündungen oder Vitamin- und Nährstoffmangel entstehen. Auch neurologische Erkrankungen wie Epilepsie, Demenz oder Hirnverletzungen können Psychosen auslösen – ebenso wie der Konsum oder Entzug von Drogen oder Alkohol.

Interessant ist, dass offensichtlich auch unsere Genetik eine Rolle beim Entstehen von Psychosen oder psychotischen Erkrankungen spielt. Schizophrenie hat eine deutliche genetische Komponente. Aber lange nicht bei jedem, der diese Disposition hat, bricht die Psychose auch aus.

Das führt uns zu den multifaktoriellen, „weichen“ Bedingungen: Einen deutlichen Einfluss darauf, ob es zu einer Psychose kommt oder eben nicht, hat, ob wir während der Kindheit traumatische Erlebnisse (z. B. Missbrauch, Vernachlässigung, extremer Stress) erfahren haben, aber auch im weiteren Leben (z. B. Krieg und Vertreibung). Zudem gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass Menschen mit Migrationshintergrund ein erhöhtes Risiko haben, eine Psychose zu entwickeln. Und zwar nicht, weil sie Migranten sind, sondern weil sie aufgrund ihres Migrationshintergrundes Diskriminierung und kulturellen Stress erfahren.

Gute Integration kann also vor Psychosen schützen – etwas, bei dem wir uns alle an die eigene Nase fassen können. Wie integrativ sind wir denn? Oder wann und wie neigen wir dazu, andere auszugrenzen? Denn auch soziale Isolation, Einsamkeit, Mobbing und fehlende soziale Unterstützung können psychotische Symptome begünstigen. Menschen, die in einer festen Beziehung leben und sozial eingebunden sind, haben zum Beispiel selbst bei einer so ernsthaften Erkrankung wie Schizophrenie eine deutlich günstigere Prognose als Alleinstehende.

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell

Am Ende scheint es in den meisten Fällen eine Kombination aus „weichen“ und „harten“ Faktoren zu sein, die das Entstehen einer Psychose fördern oder davor schützen. Habe ich eine genetische Disposition oder trage ich eines oder mehrere schwere Traumata mit mir herum, löst das nicht direkt eine Psychose aus. Kommt jedoch mehr und mehr Stress dazu oder konsumiere ich Drogen (vielleicht um den Stress zu betäuben), erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass ich an einer Psychose erkranke. Irgendwann läuft das Fass eben über, und die Seele zeigt die gelb-rote Karte.

Was es braucht – nicht nur mit Blick auf potenzielle psychische Erkrankungen –, ist Integration und ehrliches, wertfreies Interesse aneinander, von dem uns niemand außer wir selbst abhalten kann. “Unterschätze nie die Macht eines Ja!” Dieses Zitat von Jacinda Ardern steht momentan als Wochenmotto auf meinem Schreibtisch. Sie hat recht. Warum häufig zu kritisch, so negativ? Es geht auch positiv, ressourcenorientiert. Warum verurteilen und ausgrenzen, wenn wir auch respektieren und unterstützen können? Integration hört nicht bei physischer Barrierefreiheit oder Regenbogenfahnen auf. Sie muss ebenso selbstverständlich auf der Ebene psychischer Erkrankungen stattfinden.

Ich werde jetzt weiterlernen. Passend zu diesem Artikel stehen Psychosen an diesem Wochenende auf meinem Lernplan. Denn im therapeutischen Kontext ist eine psychotische Erkrankung nicht gleich eine psychotische Erkrankung. Es gibt zum Beispiel eine Form der akuten, körperlich bedingten Psychose – das Delir –, die es unbedingt von anderen Formen zu unterscheiden gilt, weil hier akute Lebensgefahr besteht.

Und während ich so vor mich hin lerne, bin ich wieder und wieder zutiefst fasziniert von uns Menschen, unserem Körper – in Einheit mit unserer Seele. Denn unsere Seele zeigt nicht einfach so die gelb-rote Karte, sondern unterscheidet, ob das Leben in Gefahr ist, und gibt der Psychose in diesem Fall eine leicht andere Form. Ist das Leben in Gefahr, zeigen sich zum Beispiel Halluzinationen häufig eher in optischer Form. Ist das Leben nicht in Gefahr, liefert unser Organismus uns tendenziell eher akustische Halluzinationen. Verrückt, oder?

Habt einen zauberhaften Sonntag, genießt die Sonne und achtet auf euch und eure Liebsten.

Eure Constance

Wenn die Seele die gelb-rote Karte zeigt

Psychosen und psychotische Episoden

Warum wir alle ein bisschen Traumatherapeut*in sein sollten

- Oder das Zauberhafteste, das ich in den letzten beiden Wochen gehört habe!

„Wenn wir unser Gegenüber nicht repräsentativ für ein Problem sehen, das es zu lösen gilt, sondern als eine Erfahrung, die es zu machen gilt, legen wir die Basis.“ So oder so ähnlich hat sich die großartige Dr. Pat Ogden im Rahmen einer Weiterbildung, an der ich kürzlich teilgenommen habe, ausgedrückt. Was für ein Satz! Wie viel positive Energie und wie viel Weisheit. Sind Erfahrungen immer positiv? Nein, natürlich nicht. Aber sie sind immer hilfreich und lassen uns zu dem werden, der oder die wir sind.

Meine aktuelle Weiterbildung ist das „Advanced Master Program of the Treatment of Trauma“ am National Institute for the Clinical Application of Behavioral Medicine in den USA, an dem ich in den letzten beiden Wochen virtuell teilnehmen durfte. Dank der Zeitverschiebung gibt es Vorlesungen zur besten Sendezeit um 19:00 Uhr! Ja, es geht um Traumata, und um zu verstehen, wie man mit dieser von Dr. Ogden beschriebenen Haltung an Traumata arbeiten kann, ist es im ersten Schritt hilfreich, zunächst zu verstehen, was ein Trauma ist.

Trauma – Was ist das überhaupt?

Ein psychisches Trauma ist die Verletzung unserer Seele oder Psyche, die durch ein belastendes Ereignis hervorgerufen wurde. Ein wirklich weites Feld. Ein sehr bekanntes und sich drastisch auswirkendes Trauma ist die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), von der wir alle schon einmal im Kontext von Gewaltverbrechen oder Krieg gehört haben. Man geht davon aus, dass etwa die Hälfte aller Kriegsflüchtlinge an einer PTBS leidet. Bei etwa einem Drittel hat sich diese mutmaßlich chronifiziert und zu einer dauerhaften Persönlichkeitsveränderung geführt – eine Erkrankung, die man früher auch als KZ-Syndrom bezeichnet hat. Heute vielleicht das Afghanistan-, Syrien- oder Ukraine-Syndrom?

Bei einem Trauma führen belastende Erlebnisse dazu, dass das Nervensystem wie bei einer PTBS in völliger Überlastung läuft oder dass man das Erlebte abspaltet, um es aus der aktiven Erinnerung zu streichen. Hierbei kann es sein, dass Betroffene mehrere Persönlichkeiten entwickeln – eine dissoziative Identitätsstörung. Es kann auch vorkommen, dass der Körper nicht mehr wie gewohnt funktioniert, ohne dass es eine greifbare medizinische Diagnose dazu gibt. Diese Störungen können bis hin zu Lähmung oder Blindheit reichen. Es kann zu krampf- oder tranceartigen Anfällen kommen – und so weiter und so fort. Ein Trauma kann eine psychische Erkrankung hervorrufen, die sich massiv körperlich äußern kann – kann, muss aber nicht! Denn Fakt ist: Wir alle erleben im Laufe unseres Lebens viele größere und kleinere Traumata, und unser Organismus entwickelt Schritt für Schritt Strategien, um mit diesen Verletzungen umzugehen. Ganz so, wie euer Körper weiß, wie er sich um den tiefen Schnitt im Finger, den ihr euch beim Zwiebelschneiden zugezogen habt, kümmern muss. Vielleicht bleibt eine kleine Narbe, vielleicht auch nicht. Das ist unsere Resilienz, unsere psychische Abwehrkraft. Bei großen Verletzungen – wie bei einem Oberschenkelhalsbruch, einer massiven inneren Blutung oder einer Wunde, die sich infiziert hat – braucht der Organismus Unterstützung; kleinere Wunden heilt er selbst. Leider lassen sich diese seelischen Verwundungen nicht so gut erkennen wie die rein körperlichen.

Freeze – wenn der Körper einfach dichtmacht

Ein Hinweis auf eine Traumatisierung kann ein Zustand sein, den die moderne Neurowissenschaft als Freeze, also Einfrieren, bezeichnet – einen Zustand, den wir alle wahrscheinlich kennen. In der Schule stehen wir vorne an der Tafel, und alles, was wir einmal wussten, ist weg, und wir sind nicht in der Lage zu sprechen. Ein Blackout, das uns auch im beruflichen Kontext ereilen kann. Oder ihr kommt zu einem schweren Unfall dazu, seht schwer verletzte Menschen und seid nicht handlungsfähig. Der Schock hat euch einfrieren lassen. Oder ihr werdet angegriffen, und anstatt euch zu wehren, könnt ihr noch nicht einmal um Hilfe schreien. Euer gesamter Organismus, eure neuronalen Netzwerke, sind völlig überrollt und stellen erstmal jede Aktivität, jede Reaktionsfähigkeit ein.

Evolutionshistorisch machte das alles einmal Sinn. Die primäre Freeze-Reaktion diente dazu, sich vor der Flucht oder dem Kampf kurz zu orientieren – das kann man recht gut bei Rehen beobachten, die, sobald sie die Scheinwerfer erblicken, mitten auf der Straße stehen bleiben und erstmal ins Licht schauen. Im Idealfall sind wir nach dieser kurzen Lähmung, die – wie gesagt – zur Orientierung dient, wieder handlungsfähig und gehen entweder in eine Kampf- oder Fluchtreaktion. Erscheint unserem Organismus die subjektiv empfundene Gefahr so überwältigend, dass weder Kampf noch Flucht eine Option ist, entscheidet unser Organismus, es mit Einfrieren zu versuchen. Vielleicht fallen wir dann weniger auf, und der Jäger lässt von uns ab.

Schon die Erinnerung an ein erlittenes und noch nicht komplett verarbeitetes Trauma kann eine solche Reaktion hervorrufen – insbesondere auch in einem therapeutischen Setting. Aus diesem Grund sind Freeze-Reaktionen während einer Therapie nichts Außergewöhnliches. Die Herausforderung für Therapeutinnen: In diesem Zustand ist ein Mensch nur eingeschränkt kognitiv erreichbar und interaktionsfähig. Ein direktes therapeutisches Arbeiten ist also nicht möglich. Frustrierend für den/die Therapeutin?

Wie kommt man wieder raus aus dem Freeze?

An dieser Stelle setzte die bereits genannte Dr. Pat Ogden in einer Session zum Umgang mit Freeze im therapeutischen Kontext an. Denn die Basis dafür, Menschen Schritt für Schritt aus diesem Zustand der inneren und äußeren Lähmung herauszubegleiten, ist der Aufbau einer positiv belegten Beziehung. Klar könnte man meinen, ein erstarrter Klient stelle für den Therapeuten ein Problem dar. Begegne ich einem Klienten mit dieser Haltung, wird er das selbst im Zustand der Erstarrung intuitiv spüren und sich noch weiter in sich zurückziehen. Begegnen wir den Menschen offen, neugierig und positiv, wird er dies ebenfalls spüren, sich im besten Fall ein klein wenig sicherer fühlen und sich vielleicht Schritt für Schritt aus dem Schutzbunker seiner Seele herauswagen. In der systemischen Arbeit – egal ob Coaching oder Therapie – nennen wir das Pacing oder Begleiten. Dr. Ogden bezeichnet es als „Right-To-Right-Brain-Communication“, also die oft unbewusste Kommunikation zwischen unseren rechten Hirnhälften, die die Basis für zwischenmenschliche Beziehungen darstellt. Diese Art der Kommunikation beginnt mit meiner Einstellung, meiner Haltung gegenüber der Welt, meinen Mitmenschen und mir selbst.

Im Verlauf der Vorlesung wurde auch darauf eingegangen, wie wichtig es nicht nur für Therapeut*innen ist, mit der rechten Hirnhälfte auf Menschen zu reagieren, die starr vor Verunsicherung oder Angst sind. Traumata haben viele Gesichter, und jeder von uns trägt unzählige größere oder kleinere Narben – manchmal auch offene seelische Wunden, die für andere unsichtbar bleiben. Warum also nicht achtsam und neugierig reagieren, wenn Menschen sich anders verhalten, als wir es erwarten oder wünschen? In jedem von uns steckt ein kleiner psychologischer Ersthelfer. Alles, was es braucht, ist anstelle von Druck und Ungeduld, mit Neugier und Offenheit auf andere zuzugehen. Egal, ob als Lehrer, Pflegekraft, Mediziner, als Führungskraft, Kolleg*innen oder Nachbar*innen – lasst uns als Menschen offen, empathisch und neugierig begegnen. Das Problem ist aus meiner Sicht nicht die Anwesenheit von Wut, Frust oder Hilflosigkeit, sondern die Abwesenheit von Neugier und Liebe.

„Wenn wir unser Gegenüber nicht repräsentativ für ein Problem sehen, das es zu lösen gilt, sondern als eine Erfahrung, die es zu machen gilt, legen wir die Basis.“

Heute ist Wahltag in Deutschland. So viel wurde im Vorfeld über diese Wahl geschrieben, so viel wurde diskutiert. Das Leben um uns herum scheint in diesen Tagen einigermaßen turbulent zu sein. Ich erlebe viel Angst, Verunsicherung, alte Traumata, die aufgerissen werden, und neue, die hinzukommen. Ich spüre sogar mein eigenes transgenerationales Trauma (ja, auch das gibt es!).

Mein Wunsch wäre, dass sich sowohl wir als Gesellschaft als auch unsere (demokratischen) Politiker*innen mit Neugier der jeweils anderen Position und mit Offenheit für andere Argumentationen begegnen und so gemeinsam einen Weg finden, der uns wieder enger und verständnisvoller zusammenbringt.

In diesem Sinne: Geht wählen! Der Spruch ist alt und abgedroschen, aber vielleicht noch nie so aktuell wie heute: Wer in einer Demokratie schläft, droht in einer Diktatur wieder aufzuwachen.

Eure Constance

PS:

Im Kontext von Freeze-Reaktionen gab es auch etwas, das nach Ansicht aller Dozent*innen unbedingt zu unterlassen ist: Anfassen! Oft haben wir recht schnell das Gefühl, andere berühren zu wollen, um sie zu beruhigen. Ohne die eindeutige Erlaubnis der Betroffenen ist das immer eine denkbar schlechte Idee. Insbesondere im medizinischen Kontext haben Ogden & Co. von vielen beispielhaften Situationen berichtet, in denen Menschen gegen ihren Willen berührt wurden (mit bester und freundlichster Absicht). Aufgrund ihrer Erstarrung konnten sich die Betroffenen nicht äußern und wehren und haben diese Situation als weitere Ohnmachtssituation gespeichert. „Right-Brain-To-Right-Brain-Communication“ braucht keine körperlichen Berührungen!

Nicht jede Narbe, nicht jede Wunde ist sichtbar

Trauma: Wenn die Seele nicht mehr weiter weiß.