Coaching

Das Glück - ein scheuer, leiser Begleiter

Wenn das Jahr sich seinem Ende zuneigt, werden viele von uns stiller. Die Tage sind kürzer, die Nächte länger, und irgendwo zwischen Glühweinduft, Kerzenschein, Atemwolken in der kalten Luft und dem leisen Rieseln der ersten Schneeflocken beginnen wir zu reflektieren. Wir denken darüber nach, was war, was bleibt und was vielleicht erst noch kommen darf. In dieser Zeit drängt sich vielleicht auch bei dir die eine Frage immer wieder vorsichtig ins Bewusstsein: Bin ich glücklich? Glück ist ein scheues Konzept. Es lässt sich nicht herbeizwingen, es folgt keiner klaren Formel – und manchmal erkennt man es erst, wenn man innehält. Vielleicht ist gerade deshalb die Weihnachtszeit ein guter Moment, um dem Glück einmal ganz bewusst nachzuspüren.

Was ist Glück eigentlich? Ein Blick auf verschiedene Theorien

Glück begleitet die Menschheit, seit sie denken kann. Doch je nachdem, wen man fragt, zeigt es sich in ganz unterschiedlichen Farben. Hier sind vier unterschiedliche Herangehensweisen an das Glück:

1. Das hedonistische Glück – Freude im Moment

Die älteste Vorstellung von Glück findet sich in der Lebensfreude selbst. Epikur sprach davon, dass Glück aus Lust resultiere – nicht aus ausschweifendem Genuss, sondern aus innerem Frieden, aus den kleinen Freuden des Lebens: ein warmes Getränk, ein vertrautes Lächeln, der Duft nach frisch gebackenen Plätzchen. In dieser Sichtweise ist Glück etwas, das man spürt, unmittelbar und körperlich. Ein Moment, der im Herzen aufleuchtet.

2. Eudaimonia – Glück als gelingendes Leben

Aristoteles hingegen sah Glück weniger als Gefühl, sondern als Zustand des Gelingens. Für ihn war Glück das Ergebnis eines tugendhaften Lebens – eines Lebens, in dem wir das tun, was unserem inneren Wesen entspricht. Wir werden glücklich, wenn wir wachsen, sinnvoll handeln, unsere Potenziale entfalten und Verbundenheit erleben. Es ist das Glück, das sich nicht in Sekunden misst, sondern in Jahren. Es ist die Sinnhaftigkeit des eigenen Seins.

3. Positive Psychologie – Glück als Zusammenspiel

Die moderne Forschung sieht Glück heute als ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren:

  • positive Emotionen

  • Engagement

  • Beziehungen

  • Sinn

  • Erfolge und Zielerreichung

Glück entsteht demnach nicht aus einer Quelle, sondern aus einem harmonischen Zusammenspiel vieler Lebensbereiche – wie ein Chor, der nur dann berührt, wenn alle Stimmen zusammenklingen.

4. Glück als Balance – das ostasiatische Verständnis

In vielen östlichen Philosophien gilt Glück als Zustand der inneren und äußeren Balance. Nicht das Streben nach mehr macht glücklich, sondern das Loslassen – das Akzeptieren, was ist. Glück entsteht aus Harmonie: mit anderen, mit der Natur, mit sich selbst. Hier geht es nicht darum, Glück festzuhalten, sondern ihm Raum zu geben, damit es sich zeigen kann. Eine Vorstellung, die mit mir persönlich ganz besonders resoniert. Loslassen, Raum geben, Leichtigkeit…

Warum wir Glück oft dort suchen, wo es gar nicht wohnt

Vielleicht liegt die größte Herausforderung darin, dass wir Glück häufig mit etwas verwechseln, das viel lauter und glänzender wirkt: Erfolg, Besitz, Status, perfekte Lebensumstände. Besonders in der Vorweihnachtszeit, wenn Werbung und Erwartungen sich über uns legen wie eine glitzernde Decke, kann leicht der Eindruck entstehen: Wenn nur dieses oder jenes eintritt … dann wäre ich glücklich. Doch Glück ist selten ein Ergebnis von „Wenn-dann“-Konstellationen. Oft ist es eher wie ein kleiner Vogel, der sich in unsere Nähe setzt, während wir gerade mit etwas ganz anderem beschäftigt sind. Glück geschieht. Überraschend, leise, unaufgeregt.

Der vielleicht wichtigste Schlüssel: Zufriedenheit

Je mehr man sich mit Glück beschäftigt, desto klarer wird etwas: Glück ist weniger ein Gipfel, den man besteigt, sondern ein Boden, auf dem man steht. Zufriedenheit ist das Fundament dieses Bodens. Sie entsteht, wenn wir annehmen können, was ist – nicht resigniert, sondern friedlich. Wenn wir nicht ständig gegen das Leben anrennen. Wenn wir uns erlauben, auch im Unvollkommenen etwas Gutes zu sehen. Zufriedenheit bedeutet nicht, keine Ziele zu haben. Aber sie gibt uns die Freiheit, nicht ständig im Mangel zu leben. Sie schenkt Ruhe statt Rastlosigkeit. Und aus dieser Ruhe erwächst oft das, was wir Glück nennen.

Und dann ist da noch die Dankbarkeit

Vielleicht ist Dankbarkeit die zärtlichste Form von Glück. Dankbarkeit öffnet den Blick für das, was schon da ist, statt für das, was fehlt. Sie verwandelt Selbstverständliches in ein Geschenk:

  • ein vertrautes Gespräch

  • ein Dach über dem Kopf

  • Menschen, die uns wichtig sind

  • ein Moment der Stille

  • ein Ziel, das wir erreicht haben – oder eins, das uns noch trägt

Psychologische Studien zeigen immer wieder: Menschen, die Dankbarkeit bewusst praktizieren, sind nicht nur glücklicher, sondern auch resilienter, optimistischer und ausgeglichener. Doch auch ohne Studien spüren wir intuitiv: Dankbarkeit macht das Herz weich. Vielleicht ist sie sogar der leise Kern von Weihnachten selbst.

Glück in der Weihnachtszeit – ein persönlicher Gedanke

Gerade jetzt, am Ende des Jahres, dürfen wir uns bewusst machen, dass Glück nicht laut sein muss. Es muss nichts Spektakuläres passieren. Vielleicht zeigt sich Glück in genau diesen Momenten: in der Wärme eines Raums, in dem Menschen zusammenkommen. In einem Licht, das wir entzünden. Im Gedanken an jemanden, der uns wichtig ist. In der Erkenntnis, dass wir vieles nicht perfekt gemacht haben – aber das meiste mit ehrlichem Herzen. In der stillen Hoffnung, dass das kommende Jahr uns wieder Möglichkeiten schenkt, zu wachsen und zu lieben.

Und vielleicht – ganz vielleicht – liegt das größte Glück darin, dass wir nie aufhören müssen, es zu suchen.

Wenn wir uns für einen Moment erlauben, nicht höher, schneller, weiter zu wollen, sondern einfach da zu sein, dann öffnet sich manchmal ein warmes Fenster im Herzen. Dort sitzt das Glück. Ganz still. Ganz einfach.

Denn allzu oft finden wir das Glück unterwegs, nicht am Ziel…

Zum Abschluss

Vielleicht darf mein letzter Artikel vor Weihnachten ein kleines Geschenk an dich selbst sein: eine Erinnerung daran, dass Glück nicht irgendwo draußen wartet – sondern in den Momenten, in denen wir die Welt nicht verbessern wollen, sondern nur wahrnehmen. Ich wünsche dir, dass du in den kommenden Adventswochen genau solche Momente findest: Momente der Ruhe, der Nähe, der Dankbarkeit. Momente, in denen das Glück sich zeigt, ohne dass du es suchst.

Frohe Weihnachten – und einen Jahreswechsel voller warmer Augenblicke und Dankbarkeit. 🎄✨

Ich gehe jetzt in meine kleine Weihnachtspause, um mir Zeit zu nehmen, meinem ganz persönlichen Glück nachzuspüren. Ab dem 11. Januar bin ich wieder mit meinem Blog zurück. Ich freue mich, wenn du dann auch wieder dabei bist. Danke für ein verrücktes, anstrengendes, lehrreiches, erfolgreiches, glückliches Jahr, in dem mich – und vielleicht auch dich – dieser Blog begleitet hat.

Deine Constance

Glück…

Ein leiser, schüchterner Begleiter, der sich gerne versteckt und doch so oft präsent ist.

Hochsensibilität - Wenn sich die Welt ein wenig intensiver anfühlt

Es gibt Menschen, für die die Welt sich anfühlt wie ein besonders fein eingestelltes Mikrofon: Sie hören mehr Zwischentöne, sehen mehr Nuancen, spüren mehr Schwingungen als andere. Fast ein Fünftel der Bevölkerung besitzt diese feinere Wahrnehmungsantenne, die wir Hochsensibilität nennen. Doch Hochsensibilität bedeutet nicht nur Empfindsamkeit — sie bedeutet Tiefe. Es ist, als würde man im Leben nicht mit einem Standardradio unterwegs sein, sondern mit einem Gerät, das selbst schwache Signale empfängt. Man hört die Melodie deutlicher, aber eben auch das Rauschen.

Kindheit – Wenn die Welt zu groß, zu bunt, zu laut erscheint

Viele hochsensible Menschen erinnern sich an ihre Kindheit wie an einen Marktplatz: eine faszinierende Sammlung von Eindrücken, Geräuschen, Bewegungen — aber manchmal schlicht zu viel. Für ein hochsensibles Kind kann sich ein Schultag anfühlen, als wäre man durch einen Sturm gelaufen, während andere nur einen frischen Wind gespürt haben. Es sind Kinder, die leise beobachten, bevor sie handeln. Kinder, die Details wahrnehmen, die anderen entgehen: das angespannte Lächeln einer Lehrerin, die Unruhe eines Klassenkameraden, das Flackern einer Neonröhre, das andere nicht einmal bemerken. Sie denken viel und tief. Ein Satz, der andere nur kurz berührt, hallt in ihnen nach wie ein Klang, der langsam verklingt.

Wie man Hochsensibilität bei Kindern erkennen kann

Von außen wirkt ein hochsensibles Kind oft:

  • achtsam, beobachtend, eher ruhig

  • leicht überstimuliert, wenn es zu laut, zu chaotisch oder zu viel wird

  • perfektionistisch oder sehr gewissenhaft

  • empathisch, spürt Stimmungen anderer sofort

  • nachdenklich, manchmal „älter als sein Alter“

Manchmal wirken sie schüchtern, manchmal vorsichtig — doch eigentlich wägen sie tief im Inneren ab, was andere gar nicht bemerken.

Jugend – Der Seismograph unter Gleichaltrigen

In der Pubertät, wenn Gefühle bei allen Jugendlichen hochschlagen, wird die Welt für Hochsensible besonders intensiv. Sie sind Seismographen in einer Zeit voller Erdbeben — sie spüren Stimmungen früher als andere, feinste Veränderungen im Freundeskreis, Spannungen in Familien, unterschwellige Botschaften in Gruppen. Während viele Gleichaltrige Leichtigkeit suchen, suchen Hochsensible Tiefe: echte Verbundenheit statt flüchtiger Kontakte. Sie stellen sich Fragen, die andere erst Jahre später stellen. Manchmal fühlen sie sich wie Orchideen zwischen Sonnenblumen: nicht schwächer, nur anders, fein abgestimmt, intensiver abhängig von ihrer Umgebung und außergewöhnlich, wenn die Bedingungen stimmen.

Woran man Hochsensibilität in der Jugend oft erkennt

Jugendliche mit hoher Sensibilität sind häufig:

  • stark empathisch, oft die „Anlaufstelle“ für Freunde

  • konfliktsensibel, vermeiden unnötige Dramen

  • überfordert von zu viel sozialer Interaktion, brauchen Auszeiten

  • reflektiert, oft erstaunlich tiefgründig

  • verletzlicher, weil Kritik intensiver verarbeitet wird

Ihr Innenleben gleicht einem tiefen Meer: An der Oberfläche tobt vielleicht nur eine leichte Welle, doch in der Tiefe bewegt sich viel.

Erwachsenenalter – Wenn das feine Radio weiterklingt

Im Erwachsenenalter wird die akute Sensibilität nicht weniger — aber sie wird bewusster. Hochsensible Erwachsene wählen ihre Umgebung mit Bedacht. Sie mögen Arbeitsplätze, an denen sie denken dürfen, statt dauernd unterbrochen zu werden. Sie bevorzugen Beziehungen, die ehrlich, respektvoll und tiefergehend sind. Oberflächliche Kontakte fühlen sich für viele an wie lauwarmes Wasser: nicht schädlich, aber nicht nährend. Viele von ihnen geraten in Berufe, in denen ihre Wahrnehmung ein Vorteil ist: Coaching, Therapie, Führung, Kreativberufe, Wissenschaft, Sozialarbeit, IT. Die genaue Beobachtungsgabe, die emotionale Resonanz, die Fähigkeit, Muster zu erkennen, ist in vielen Bereichen Gold wert. Doch gleichzeitig zahlen sie bei zu viel Stress schnell einen Preis: Reizüberflutung, Erschöpfung, Burn-out-Neigung. Ein überfülltes Großraumbüro kann für sie das sein, was ein lauter Motor für jemanden mit empfindlichen Ohren wäre: ein ständiges Grundrauschen, das Energie zieht.

Woran man Hochsensibilität bei Erwachsenen erkennen kann

Hochsensible wirken oft:

  • aufmerksam, reflektiert, detailorientiert

  • authentisch, sie hassen leere Floskeln

  • loyal, manchmal über ihre Grenzen hinaus

  • stimmungssensibel, sie spüren Konflikte ohne Worte

  • gereizt oder erschöpft, wenn zu viele Reize gleichzeitig auf sie einwirken

Sie haben ein ausgeprägtes Radar für Zwischentöne — ein Radio, das Signale empfängt, die anderen entgehen.

Familiengründung – Zwischen Hingabe und Überforderung

Wenn Hochsensible selbst Eltern werden, beginnt ein neuer, intensiver Lebensabschnitt. Kinderlachen, nächtliches Weinen, alltägliches Chaos — für viele Hochsensible ist das wie ein Feuerwerk aus Emotionen: berührend, überwältigend, erfüllend, aber manchmal eben auch zu viel. Sie spüren jede Stimmung ihres Kindes, als wäre sie ihre eigene. Sie bemerken winzige Veränderungen: den leicht veränderten Tonfall, die Müdigkeit in den Augen, ein ungewohntes Verhalten. Ihre Fürsorge ist oft tief und intuitiv. Und zugleich fällt es ihnen schwer, abzuschalten. Ihr Nervensystem bleibt länger aktiv, ihre Gedanken arbeiten weiter, wenn das Kind längst schläft. Viele erleben sich auf einem Drahtseil zwischen Erschöpfung und emotionaler Intensität. Doch wenn sie lernen, ihre Grenzen zu schützen, entsteht ein besonderer Elternstil: warm, achtsam, liebevoll verbunden.

Die sichtbaren und unsichtbaren Spuren der Sensibilität

Zahlen helfen, die innere Welt objektiver zu betrachten: 15–20 % der Menschen sind hochsensibel — Männer und Frauen etwa gleich häufig. Es gibt deutliche Hinweise auf eine genetische Komponente, doch die Umgebung entscheidet, ob diese Sensibilität zur Stärke wird oder zur Belastung.

Hochsensible tragen oft die Tugenden, die man in einer lauten Welt zu selten findet:

  • Empathie

  • Kreativität

  • Tiefes Denken

  • Feinfühligkeit

  • Ein Gespür für Details

  • Wertorientierte Entscheidungen

Sie sind die Menschen, die zwischen den Zeilen lesen. Die die Welt nicht nur sehen, sondern fühlen. Die nicht nur reagieren, sondern verarbeiten. Die manchmal zu viel spüren — und doch unendlich viel geben können.

Fazit – Hochsensibilität ist keine Schwäche. Sie ist eine Kunst.

Hochsensibilität bedeutet nicht, dünnhäutig zu sein. Es bedeutet vielmehr, durchlässiger zu sein für die Welt. Tiefe statt Fläche, Resonanz statt Gleichgültigkeit, Wahrnehmung statt Abwehr. Hochsensible Menschen sind wie fein gestimmte Instrumente: Sie klingen reich und warm, wenn man sie respektvoll behandelt, und verstummen oder verzerren, wenn sie überfordert werden. In einer passenden Umgebung entfalten sie eine Schönheit, die kraftvoll und besonders ist. Sie sind Menschen, die mehr hören, mehr fühlen, mehr denken — nicht weil sie müssen, sondern weil sie es schlicht nicht anders können. Und genau darin liegt ihre Stärke.

Mit diesem Artikel zu Hochsensibilität beende ich nun meine Serie rund um das Thema Neurodiversität. Ich hoffe, es ist mir gelungen, euch in andere Welten mitzunehmen und ein wenig Werbung für wirkliche Vielfalt zu machen. Ich erinnere mich noch an meine NLP-Ausbildung, in der wir immer wieder darüber gesprochen haben, dass nicht das Verhalten hilfreich oder hinderlich ist, sondern dass die Umwelt, das Umfeld definiert, wie Verhalten bewertet wird. Ich gebe den Traum nicht auf, dass wir alle das Umfeld finden, in dem unser Verhalten, unsere Persönlichkeit ganz und gar als hilfreich betrachtet wird.

Wie immer freue ich mich auf euer Feedback und möchte mich gleichzeitig für die vielen Nachrichten in den letzten drei Monaten bedanken. Auch sie haben mich durch diese kleine Serie getragen.

Keine Sorge, mein Blog geht natürlich weiter. Und vielleicht habt ihr ja Wünsche, womit genau!

Eure Constance

Hochsensibel

Wenn die Welt ein wenig lauter klingt

Warum wir alle ein bisschen Traumatherapeut*in sein sollten

- Oder das Zauberhafteste, das ich in den letzten beiden Wochen gehört habe!

„Wenn wir unser Gegenüber nicht repräsentativ für ein Problem sehen, das es zu lösen gilt, sondern als eine Erfahrung, die es zu machen gilt, legen wir die Basis.“ So oder so ähnlich hat sich die großartige Dr. Pat Ogden im Rahmen einer Weiterbildung, an der ich kürzlich teilgenommen habe, ausgedrückt. Was für ein Satz! Wie viel positive Energie und wie viel Weisheit. Sind Erfahrungen immer positiv? Nein, natürlich nicht. Aber sie sind immer hilfreich und lassen uns zu dem werden, der oder die wir sind.

Meine aktuelle Weiterbildung ist das „Advanced Master Program of the Treatment of Trauma“ am National Institute for the Clinical Application of Behavioral Medicine in den USA, an dem ich in den letzten beiden Wochen virtuell teilnehmen durfte. Dank der Zeitverschiebung gibt es Vorlesungen zur besten Sendezeit um 19:00 Uhr! Ja, es geht um Traumata, und um zu verstehen, wie man mit dieser von Dr. Ogden beschriebenen Haltung an Traumata arbeiten kann, ist es im ersten Schritt hilfreich, zunächst zu verstehen, was ein Trauma ist.

Trauma – Was ist das überhaupt?

Ein psychisches Trauma ist die Verletzung unserer Seele oder Psyche, die durch ein belastendes Ereignis hervorgerufen wurde. Ein wirklich weites Feld. Ein sehr bekanntes und sich drastisch auswirkendes Trauma ist die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), von der wir alle schon einmal im Kontext von Gewaltverbrechen oder Krieg gehört haben. Man geht davon aus, dass etwa die Hälfte aller Kriegsflüchtlinge an einer PTBS leidet. Bei etwa einem Drittel hat sich diese mutmaßlich chronifiziert und zu einer dauerhaften Persönlichkeitsveränderung geführt – eine Erkrankung, die man früher auch als KZ-Syndrom bezeichnet hat. Heute vielleicht das Afghanistan-, Syrien- oder Ukraine-Syndrom?

Bei einem Trauma führen belastende Erlebnisse dazu, dass das Nervensystem wie bei einer PTBS in völliger Überlastung läuft oder dass man das Erlebte abspaltet, um es aus der aktiven Erinnerung zu streichen. Hierbei kann es sein, dass Betroffene mehrere Persönlichkeiten entwickeln – eine dissoziative Identitätsstörung. Es kann auch vorkommen, dass der Körper nicht mehr wie gewohnt funktioniert, ohne dass es eine greifbare medizinische Diagnose dazu gibt. Diese Störungen können bis hin zu Lähmung oder Blindheit reichen. Es kann zu krampf- oder tranceartigen Anfällen kommen – und so weiter und so fort. Ein Trauma kann eine psychische Erkrankung hervorrufen, die sich massiv körperlich äußern kann – kann, muss aber nicht! Denn Fakt ist: Wir alle erleben im Laufe unseres Lebens viele größere und kleinere Traumata, und unser Organismus entwickelt Schritt für Schritt Strategien, um mit diesen Verletzungen umzugehen. Ganz so, wie euer Körper weiß, wie er sich um den tiefen Schnitt im Finger, den ihr euch beim Zwiebelschneiden zugezogen habt, kümmern muss. Vielleicht bleibt eine kleine Narbe, vielleicht auch nicht. Das ist unsere Resilienz, unsere psychische Abwehrkraft. Bei großen Verletzungen – wie bei einem Oberschenkelhalsbruch, einer massiven inneren Blutung oder einer Wunde, die sich infiziert hat – braucht der Organismus Unterstützung; kleinere Wunden heilt er selbst. Leider lassen sich diese seelischen Verwundungen nicht so gut erkennen wie die rein körperlichen.

Freeze – wenn der Körper einfach dichtmacht

Ein Hinweis auf eine Traumatisierung kann ein Zustand sein, den die moderne Neurowissenschaft als Freeze, also Einfrieren, bezeichnet – einen Zustand, den wir alle wahrscheinlich kennen. In der Schule stehen wir vorne an der Tafel, und alles, was wir einmal wussten, ist weg, und wir sind nicht in der Lage zu sprechen. Ein Blackout, das uns auch im beruflichen Kontext ereilen kann. Oder ihr kommt zu einem schweren Unfall dazu, seht schwer verletzte Menschen und seid nicht handlungsfähig. Der Schock hat euch einfrieren lassen. Oder ihr werdet angegriffen, und anstatt euch zu wehren, könnt ihr noch nicht einmal um Hilfe schreien. Euer gesamter Organismus, eure neuronalen Netzwerke, sind völlig überrollt und stellen erstmal jede Aktivität, jede Reaktionsfähigkeit ein.

Evolutionshistorisch machte das alles einmal Sinn. Die primäre Freeze-Reaktion diente dazu, sich vor der Flucht oder dem Kampf kurz zu orientieren – das kann man recht gut bei Rehen beobachten, die, sobald sie die Scheinwerfer erblicken, mitten auf der Straße stehen bleiben und erstmal ins Licht schauen. Im Idealfall sind wir nach dieser kurzen Lähmung, die – wie gesagt – zur Orientierung dient, wieder handlungsfähig und gehen entweder in eine Kampf- oder Fluchtreaktion. Erscheint unserem Organismus die subjektiv empfundene Gefahr so überwältigend, dass weder Kampf noch Flucht eine Option ist, entscheidet unser Organismus, es mit Einfrieren zu versuchen. Vielleicht fallen wir dann weniger auf, und der Jäger lässt von uns ab.

Schon die Erinnerung an ein erlittenes und noch nicht komplett verarbeitetes Trauma kann eine solche Reaktion hervorrufen – insbesondere auch in einem therapeutischen Setting. Aus diesem Grund sind Freeze-Reaktionen während einer Therapie nichts Außergewöhnliches. Die Herausforderung für Therapeutinnen: In diesem Zustand ist ein Mensch nur eingeschränkt kognitiv erreichbar und interaktionsfähig. Ein direktes therapeutisches Arbeiten ist also nicht möglich. Frustrierend für den/die Therapeutin?

Wie kommt man wieder raus aus dem Freeze?

An dieser Stelle setzte die bereits genannte Dr. Pat Ogden in einer Session zum Umgang mit Freeze im therapeutischen Kontext an. Denn die Basis dafür, Menschen Schritt für Schritt aus diesem Zustand der inneren und äußeren Lähmung herauszubegleiten, ist der Aufbau einer positiv belegten Beziehung. Klar könnte man meinen, ein erstarrter Klient stelle für den Therapeuten ein Problem dar. Begegne ich einem Klienten mit dieser Haltung, wird er das selbst im Zustand der Erstarrung intuitiv spüren und sich noch weiter in sich zurückziehen. Begegnen wir den Menschen offen, neugierig und positiv, wird er dies ebenfalls spüren, sich im besten Fall ein klein wenig sicherer fühlen und sich vielleicht Schritt für Schritt aus dem Schutzbunker seiner Seele herauswagen. In der systemischen Arbeit – egal ob Coaching oder Therapie – nennen wir das Pacing oder Begleiten. Dr. Ogden bezeichnet es als „Right-To-Right-Brain-Communication“, also die oft unbewusste Kommunikation zwischen unseren rechten Hirnhälften, die die Basis für zwischenmenschliche Beziehungen darstellt. Diese Art der Kommunikation beginnt mit meiner Einstellung, meiner Haltung gegenüber der Welt, meinen Mitmenschen und mir selbst.

Im Verlauf der Vorlesung wurde auch darauf eingegangen, wie wichtig es nicht nur für Therapeut*innen ist, mit der rechten Hirnhälfte auf Menschen zu reagieren, die starr vor Verunsicherung oder Angst sind. Traumata haben viele Gesichter, und jeder von uns trägt unzählige größere oder kleinere Narben – manchmal auch offene seelische Wunden, die für andere unsichtbar bleiben. Warum also nicht achtsam und neugierig reagieren, wenn Menschen sich anders verhalten, als wir es erwarten oder wünschen? In jedem von uns steckt ein kleiner psychologischer Ersthelfer. Alles, was es braucht, ist anstelle von Druck und Ungeduld, mit Neugier und Offenheit auf andere zuzugehen. Egal, ob als Lehrer, Pflegekraft, Mediziner, als Führungskraft, Kolleg*innen oder Nachbar*innen – lasst uns als Menschen offen, empathisch und neugierig begegnen. Das Problem ist aus meiner Sicht nicht die Anwesenheit von Wut, Frust oder Hilflosigkeit, sondern die Abwesenheit von Neugier und Liebe.

„Wenn wir unser Gegenüber nicht repräsentativ für ein Problem sehen, das es zu lösen gilt, sondern als eine Erfahrung, die es zu machen gilt, legen wir die Basis.“

Heute ist Wahltag in Deutschland. So viel wurde im Vorfeld über diese Wahl geschrieben, so viel wurde diskutiert. Das Leben um uns herum scheint in diesen Tagen einigermaßen turbulent zu sein. Ich erlebe viel Angst, Verunsicherung, alte Traumata, die aufgerissen werden, und neue, die hinzukommen. Ich spüre sogar mein eigenes transgenerationales Trauma (ja, auch das gibt es!).

Mein Wunsch wäre, dass sich sowohl wir als Gesellschaft als auch unsere (demokratischen) Politiker*innen mit Neugier der jeweils anderen Position und mit Offenheit für andere Argumentationen begegnen und so gemeinsam einen Weg finden, der uns wieder enger und verständnisvoller zusammenbringt.

In diesem Sinne: Geht wählen! Der Spruch ist alt und abgedroschen, aber vielleicht noch nie so aktuell wie heute: Wer in einer Demokratie schläft, droht in einer Diktatur wieder aufzuwachen.

Eure Constance

PS:

Im Kontext von Freeze-Reaktionen gab es auch etwas, das nach Ansicht aller Dozent*innen unbedingt zu unterlassen ist: Anfassen! Oft haben wir recht schnell das Gefühl, andere berühren zu wollen, um sie zu beruhigen. Ohne die eindeutige Erlaubnis der Betroffenen ist das immer eine denkbar schlechte Idee. Insbesondere im medizinischen Kontext haben Ogden & Co. von vielen beispielhaften Situationen berichtet, in denen Menschen gegen ihren Willen berührt wurden (mit bester und freundlichster Absicht). Aufgrund ihrer Erstarrung konnten sich die Betroffenen nicht äußern und wehren und haben diese Situation als weitere Ohnmachtssituation gespeichert. „Right-Brain-To-Right-Brain-Communication“ braucht keine körperlichen Berührungen!

Nicht jede Narbe, nicht jede Wunde ist sichtbar

Trauma: Wenn die Seele nicht mehr weiter weiß.