Diversität

"Elias, so wie du bist!" - Die Geschichte von Jana und Mark und ihrem Sohn mit ADHS

Damals und heute

Wenn Jana heute alte Bilder von Elias aus dem Kindergarten anschaut, lächelt sie. Ein kleiner Junge mit strahlenden Augen, immer in Bewegung, immer mit etwas beschäftigt, das eigentlich gar nicht die Aufgabe war. Und doch war da schon damals viel mehr: eine Wärme, ein feiner Humor, eine unverwechselbare Art, die Welt zu sehen. Damals ahnten Jana und Mark noch nicht, wie sehr dieser Junge ihr Leben verändern würde. Sie wussten nur: Elias war anders. Und sie wussten ebenso: Er ist ihr Sohn. Und sie lieben ihn – ganz und gar.

Das Gefühl, dass etwas nicht „passt“

Elias war von Anfang an ein lebhafter Junge. Schon als Kleinkind krabbelte er früher als andere, lief dafür später. Er lachte laut und unverhohlen, weinte aber genauso heftig.

Jana erinnert sich an die ersten Elternabende im Kindergarten. Da saßen Eltern, die von Bastelergebnissen ihrer Kinder erzählten. Von Malmappen voller bunter, akribisch ausgemalter Bilder. „Elias hat das Haus nicht ausgemalt“, hatte die Erzieherin einmal gesagt und Jana vorsichtig ein Blatt hingehalten: ein paar Striche, darüber ein wilder Strudel aus Farben.

Anderen Eltern hätte dieses Bild vielleicht als Desinteresse gegolten – Jana sah darin Energie. Welt. Gefühl. Die Erzieherin wohl nicht …

Und trotzdem: Da war etwas, das sie nicht einordnen konnten. Während die anderen Kinder saßen und aufmerksam zuhörten, rutschte Elias vom Stuhl, kletterte unter den Tisch, fing Gespräche an – mitten im Morgenkreis. Er störte nicht mit Absicht. Er war einfach. Einfach Elias.

Mark versuchte es pragmatisch zu sehen. „Kinder sind verschieden“, sagte er. „Er wächst da rein.“ Jana hoffte das auch. Doch mit jedem Kita-Jahr wuchs der Druck. Nicht, weil Elias „schlimm“ war. Sondern weil die Welt eine gewisse Form von Funktion erwartete – und Elias sich nicht in diese Form legen ließ.

Zwischen Liebe und Erschöpfung

Es gibt Sätze, die brennen sich ein.

„Wir schaffen es nicht mehr, Elias in der Gruppe zu halten.“

„Er braucht so viel Aufmerksamkeit.“

„Vielleicht sollten Sie das mal abklären lassen.“

Jana hat diesen Moment vor Augen, als wäre er gestern gewesen. Sie saß auf einem kleinen Holzstuhl im Gruppenraum, auf dem Teppich lagen Bauklötze und eine noch nicht ganz fertige Ritterburg. Elias drehte Kreise um sie herum – im wahrsten Sinne des Wortes. Sie fühlte sich wie eine schlechte Mutter. Als hätte sie versagt. Als müsse sie Elias erklären, rechtfertigen, verteidigen.

Mark nahm sie in den Arm, wenn die Tage besonders schwer waren. Aber auch er war müde. Müde von Gesprächen mit Erzieher:innen. Müde vom ständigen „Bitte konzentrier dich.“ Müde vom Gefühl, dass niemand wirklich sah, wie liebevoll, sensibel und einzigartig ihr Sohn war. Denn das war er: liebevoll. Wenn Jana traurig war, merkte er es sofort. Wenn Mark abends erschöpft nach Hause kam, setzte sich Elias ganz selbstverständlich zu ihm und legte seine Hand auf sein Knie.

Er fühlte alles – nur die Welt wusste nicht, wie man mit einem Kind umgeht, das so viel fühlt.

Der Weg zur Diagnose

Als Elias acht war, begann die Grundschule. Und damit wurde alles noch deutlicher. Hausaufgaben dauerten Stunden, wenn sie überhaupt gelangen. Sitzenbleiben am Tisch war nahezu unmöglich. Das Heft war voller Fehler, aber Elias konnte erklären, wie die Aufgabe zu lösen wäre – nur die Umsetzung stolperte über sein eigenes rasendes Denken. Die Klassenlehrerin schlug eine Diagnostik vor. Nicht hart, nicht vorwurfsvoll – sondern ehrlich, offen, mitfühlend. Das war neu. Und wichtig.

Die Untersuchungen dauerten Monate. Es gab Fragebögen, Tests, Gespräche. Dann saßen Jana und Mark in einem kleinen Raum. Der Arzt sprach ruhig: „Ihr Sohn hat ADHS. Das ist keine Schuld, keine Erziehungsfrage. Es ist eine Art, wie sein Gehirn Reize verarbeitet.“ Jana atmete zum ersten Mal seit Jahren anders. Nicht leichter, aber klarer. Sie hatte nicht versagt. Elias war nicht „falsch“. Er war anders verdrahtet. Mark nickte, still. Er hatte Tränen in den Augen. Manchmal ist eine Diagnose keine Last, sondern eine Entlastung.

Die Entscheidung für Medikamente

Und dann kam die nächste Entscheidung. Ein schwieriger Schritt. Medikamente. Ritalin. Es war keine schnelle Entscheidung. Es war ein Ringen. Nächte voller Gespräche zu zweit in der Küche. Stunden im Internet, in Foren – zwischen Hoffnung und Angst. Die Vorstellung, einem Kind Medikamente zu geben, fühlt sich im ersten Moment wie ein Verrat an. Doch die Frage wurde irgendwann sehr klar: Wird Elias damit mehr Freiheit haben? Mehr Raum für sich? Mehr Möglichkeit, seine Fähigkeiten zu entfalten?

Sie probierten es. Langsam, vorsichtig, begleitet von Ärzt:innen. Und dann passierte etwas, das sich nicht wie „Verändern“ anfühlte – sondern wie „Entlasten“. Elias konnte plötzlich sitzenbleiben, lange genug, um sein Eisenbahnmodell fertigzubauen. Er konnte in der Schule zuhören, ohne innerlich zu überrennen. Er lachte weiterhin laut, er spielte weiterhin wild – aber es wirkte, als hätte jemand die Welt ein kleines Stück leiser gemacht. Nicht er wurde leiser. Die Welt um ihn herum wurde nur weniger laut.

Leben mit ADHS: Sorgen, Liebe, Zukunft

Heute ist Elias 14. Ein Teenager voller Ideen, Witz und einer Fantasie, die manchmal größer scheint als die Welt selbst. Er liebt Musik, baut komplexe Welten in Computerspielen, erklärt seinen Eltern Theorien, die er irgendwo zwischen YouTube, Physikunterricht und Sternenbeobachtung gesammelt hat. Er ist immer noch schnell. Er ist immer noch intensiv. Er ist immer noch Elias. Und Jana und Mark machen sich immer noch Sorgen. Wie wird die Pubertät sein? Wie wird er sich in einer Welt zurechtfinden, die oft Menschen bevorzugt, die linear denken, planvoll, leise?

Aber sie haben etwas gelernt: Elias muss nicht „funktionieren“, um richtig zu sein. Er muss leben dürfen. Er muss gesehen werden. Er muss geliebt werden – und das wird er.

Was man manchmal vergisst: ADHS ist keine Störung im Herzen. Keine Störung im Charakter. Keine Störung der Liebe. Es ist eine andere Art, die Welt zu fühlen, zu denken, zu reagieren. Und Elias ist nicht weniger. Er ist nicht zu viel. Er ist nicht falsch. Er ist ihr Sohn. Und in ihren Augen ist er perfekt.

Wenn Jana Elias abends ins Zimmer sieht, während er mit Kopfhörern Musik hört und gedankenverloren Skizzen zeichnet, lächelt sie. Sie weiß: Der Weg war nicht leicht. Und er wird weiterhin Kurven haben.

Aber sie weiß auch: Sie gehen diesen Weg zusammen.

Mit Liebe.

Mit Geduld.

Mit Hoffnung.

Und mit Elias.

So, wie er ist.

Zahlen, Daten, Fakten

Inzwischen wird ADHS nicht mehr zu den psychischen Störungsbildern gezählt, sondern als besondere neurobiologische Ausprägung eingeordnet, die wir heute unter dem Überbegriff der Neurodiversität subsummieren.

Ursächlich ist nach aktuellem Stand der Forschung eine Abweichung (wichtig: keine krankhafte Abweichung) in der Regulation des Hirnnetzwerks im präfrontalen Cortex. Die Veranlagung ist zu 60 bis 80 Prozent erblich.

Betroffen sind bis zu sieben Prozent aller Kinder und Jugendlichen weltweit, wobei man inzwischen von einer nicht unerheblichen Dunkelziffer insbesondere bei Mädchen ausgeht, da diese ausgeprägte Strategien entwickeln können, um die Symptome zu maskieren.

Aktuell werden etwa viermal mehr Jungen als Mädchen diagnostiziert. Die neueste Forschung geht jedoch davon aus, dass ebenso viele Mädchen mit ADHS leben.

Typische Symptome sind:

  • Unaufmerksamkeit (Vergesslichkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Ablenkbarkeit, Gedankenspringen)

  • Hyperaktivität (innere Unruhe, Bewegungsdrang und bei Erwachsenen häufig nach außen nicht sichtbarer innerer Druck)

  • Impulsivität (mangelnde Impulskontrolle)

Die Behandlung fußt im Idealfall auf drei Säulen:

  • Medikamente (Ritalin bzw. Methylphenidat ist hierbei das bekannteste, jedoch nicht das einzige Medikament)

  • Psychotherapie (vor allem verhaltenstherapeutische Ansätze)

  • Strukturhilfen bzw. Coaching (insbesondere im Erwachsenenalter)

In einigen, jedoch nicht allen Fällen lässt die Symptomatik bis zum Erwachsenenalter nach.

Insbesondere bei fehlender Diagnose besteht eine hohe Komorbidität zu psychischen Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen, Suchterkrankungen, Essstörungen sowie Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Und zum Abschluss noch ein Fun Fact: Viele Menschen mit ADHS haben eine hohe Kreativität, Innovationsfähigkeit und eine herausragende Problemlösungsflexibilität – wenn sie passende Umgebungen und Strukturen vorfinden.

Und wieder wird deutlich: Das Problem ist nicht der Mensch – sondern das Umfeld.

Ich freue mich wie immer über Feedback, Fragen und Anmerkungen zum Thema.

Eure Constance

Gemeinsam - mit Liebe und Akzeptanz

ADHS bei Frauen: Wenn das Funktionieren zur Krankheit wird

Ein Zusammenbruch, der alles veränderte

Als Mira an einem Montagmorgen im März die Tür ihres Ateliers hinter sich schloss, hatte sie nicht geplant, zusammenzubrechen. Sie wollte nur kurz Luft holen. Ein paar Schritte gehen, vielleicht einen Kaffee holen, den Kopf freibekommen. Doch ihre Beine trugen sie nicht mehr. Stattdessen fand sie sich auf dem kalten Pflaster sitzend wieder – zitternd, weinend, unfähig zu verstehen, was gerade geschah.

Zwei Tage später lag sie in einem weißen Bett auf der geschlossenen Station einer psychiatrischen Klinik. Die Diagnose: schwere depressive Episode mit suizidalen Gedanken. Die eigentliche Erkenntnis über ihren Zustand kam jedoch erst Wochen später – in Form von vier Buchstaben, die ihr Leben rückblickend in völlig neuem Licht erscheinen ließen: ADHS.

Ein Leben voller Ideen – und innerer Erschöpfung

Mira war 35, als sie zum ersten Mal von einer Ärztin hörte, dass sie wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang mit einem Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom gelebt hatte – ohne es zu wissen.

„Sie sind nicht faul. Nicht undiszipliniert. Sie sind erschöpft, weil Sie seit Jahrzehnten kompensieren“, sagte die Ärztin leise, als Mira vor ihr saß, Tränen in den Augen.

Mira war Grafikdesignerin – talentiert, kreativ, erfolgreich. Ihre Kund:innen liebten ihre Ideen, ihre Energie, ihr Gespür für Ästhetik. Doch hinter der glänzenden Oberfläche tobte ein anderes Leben – eines aus Chaos, Überforderung und ständiger Selbstkritik.

Sie konnte Nächte durcharbeiten, weil sie im „Hyperfokus“ versank, und tagelang keine Mails beantworten, weil schon das Öffnen des Postfachs Panik auslöste. Termine vergaß sie, obwohl sie akribisch Listen führte. Rechnungen lagen halbfertig in Entwürfen, weil sie sich nicht überwinden konnte, sie fertigzustellen.

Von außen sah man nur: Mira, die Kreative. Mira, die Sprunghafte. Mira, die Unzuverlässige – aber auch Mira, die immer wieder irgendwie „liefert“. Die liebenswerte, herzenswarme Mira.

Drinnen jedoch wuchs der Druck – immer stärker, immer leiser.

Das Masking-Phänomen – Wenn Frauen funktionieren, bis sie es nicht mehr können

Viele Frauen mit ADHS werden oft spät oder gar nicht diagnostiziert. Das liegt nicht an mangelnder Aufmerksamkeit oder fehlender Hilfe, sondern an gesellschaftlichen Erwartungen an Mädchen, sich anzupassen, nicht aufzufallen – und daran, wie ADHS sich bei Frauen häufig anders zeigt als bei Männern. Während bei Jungen die Hyperaktivität auffällt – das Zappeln, das Stören, das „Nicht-still-sitzen-Können“ – zeigt sich ADHS bei Mädchen oft verdeckter: als innere Unruhe, Perfektionismus, emotionale Überflutung. Viele entwickeln früh Strategien, um nicht aufzufallen. Sie funktionieren. Sie gleichen aus. Sie „machen“ – und genau dieses permanente „Machen“ wird später zum Verhängnis. Psycholog:innen sprechen hier vom sogenannten „Masking-Phänomen“: Frauen mit unerkannter ADHS bauen sich über Jahre aufwendige Strukturen, Routinen und Masken, um nicht aufzufallen. Sie übernehmen Verantwortung, organisieren, überkompensieren. Bis der Akku leer ist – und die Fassade bricht.

Bei Mira geschah das schleichend. Erst waren es kleine Dinge: vergessene Deadlines, ständige Müdigkeit, Reizbarkeit. Dann kamen die Selbstzweifel: Warum schaffe ich nicht, was andere scheinbar mühelos hinbekommen? Schließlich folgten die Nächte, in denen sie starr im Bett lag und sich fragte, ob das alles noch Sinn ergibt.

Wenn die Komorbiditäten übernehmen

ADHS kommt selten allein. Vor allem bei spät diagnostizierten Menschen sind Komorbiditäten – also begleitende psychische Erkrankungen – eher die Regel als die Ausnahme.

Mira litt unter einer Depression, die immer wieder aufflammte, wenn der Druck zu groß wurde. Dazu kam eine heimliche Alkoholsucht, die sie sich lange nicht eingestehen wollte. Abends, nach stundenlangen Projekten und überreizten Tagen, war das Glas Wein die einzige Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen. Dann zwei. Dann drei.

„Ich wollte nur das Chaos im Kopf leiser machen“, sagte sie später.

Diese selbstmedikative Suche nach Entlastung ist bei ADHS-Betroffenen weit verbreitet – und gefährlich. Der Mangel an Dopamin, der das Belohnungssystem im Gehirn beeinflusst, führt oft dazu, dass Betroffene nach schnellen Reizen oder Entspannung durch Substanzen suchen: Alkohol, Nikotin, Essen, Arbeit, Sex, Social Media.

In Miras Fall wurde der Alkohol zum Symptom einer tieferen Not – eines Lebens, das permanent zu viel forderte und gleichzeitig zu wenig Verständnis bekam.

Der Zusammenbruch – und der Anfang eines neuen Lebens

Der Zusammenbruch im März war kein Ergebnis einer besonders anstrengenden Phase, sondern das Ende einer langen Entwicklung. Mira hatte seit Monaten nicht mehr richtig geschlafen, viel zu wenig gegessen, kaum noch gearbeitet. Die Depression war zur Leere geworden, der Alkohol zum stummen Begleiter.

Als sie schließlich auf der Station ankam, fühlte sie nur Erleichterung: Endlich nichts mehr müssen.

Die Diagnose ADHS kam erst nach mehreren Wochen.

Eine junge Psychotherapeutin hatte aufmerksam zugehört, als Mira von ihrer Schulzeit erzählte – von Lehrerkommentaren („Sie ist so begabt, aber sie könnte sich mehr anstrengen“), von verlegten Schlüsseln, chaotischen Schreibtischen, impulsiven Entscheidungen, die ihr Leben immer wieder in neue Bahnen lenkten.

Ein Test, ein ausführliches Gespräch – und schließlich die Erkenntnis: Das, was Mira ihr Leben lang für persönliches Versagen gehalten hatte, war Teil ihres neurobiologischen Musters.

Selbstverständnis statt Selbstvorwurf

Die Wochen nach der Diagnose waren ambivalent: Erleichterung – endlich eine Erklärung. Aber auch Trauer – über all die Jahre, die sie damit verbracht hatte, sich falsch zu fühlen.

Sie begann, über ihr Leben nachzudenken: Wie viel Kraft sie darauf verwendet hatte, „normal“ zu wirken. Wie viele Beziehungen darunter gelitten hatten, dass sie ständig zwischen Überforderung und Rückzug pendelte. Wie oft sie sich selbst als faul, unkonzentriert, chaotisch beschimpft hatte.

Heute, zwei Jahre später, spricht Mira offen über ihre Diagnose. Sie nimmt Medikamente, hat ihre Trinkgewohnheiten aufgegeben, geht regelmäßig in Therapie. Sie arbeitet wieder – langsamer, bewusster, ehrlicher.

„Ich weiß jetzt, dass mein Gehirn einfach anders funktioniert“, sagt sie. „Nicht schlechter – anders. Ich brauche andere Strukturen, mehr Pausen, weniger Schuldgefühle.“

Warum Aufklärung über ADHS bei Frauen so wichtig ist

Miras Geschichte steht für viele. Die Zahl der Frauen, die erst im Erwachsenenalter – oft nach Krisen, Zusammenbrüchen oder Burnouts – die Diagnose ADHS erhalten, steigt stetig. Diese späte Erkenntnis ist einerseits befreiend, andererseits erschütternd. Denn sie zeigt, wie sehr das gesellschaftliche Bild von „angepassten, leistungsfähigen“ Frauen dazu beiträgt, dass neurodivergente Lebensweisen übersehen werden.

ADHS bei Frauen bedeutet nicht immer Hyperaktivität. Es bedeutet häufig emotionale Intensität, Reizüberflutung, chronische Erschöpfung, innere Zerrissenheit – und den ständigen Versuch, es trotzdem allen recht zu machen.

Je mehr darüber gesprochen wird, desto eher kann Leid verhindert werden. Denn das eigentliche Problem ist nicht die neurobiologische Andersartigkeit, sondern das Unverständnis einer Umwelt, die Anpassung verlangt, wo Akzeptanz nötig wäre.

Ein neuer Blick

Mira hat gelernt, sich selbst anders zu sehen. Nicht als defekt, sondern als Mensch mit einem besonderen Nervensystem, das Sensibilität, Kreativität und Energie mit sich bringt – aber auch Verletzlichkeit.

Sie sagt heute: „Ich bin nicht geheilt. Ich bin verstanden. Und das ist der Unterschied, der mich leben lässt.“

Miras Geschichte ist ein Aufruf – zum Hinschauen, zum Verstehen, zum Anerkennen, dass viele Frauen mit ADHS jahrzehntelang kämpfen, ohne zu wissen, wogegen. Und sie erinnert daran, dass Heilung oft dann beginnt, wenn das eigene Leben endlich Sinn ergibt.

Ich selbst durfte viele wunderbare Frauen mit ADHS kennenlernen, die zum Teil lange Wege bis zur Diagnose und zum Verstehen gegangen sind. Ich durfte Mädchen kennenlernen, die schon als Kinder lernen durften, mit ihrer Einzigartigkeit umzugehen. Und natürlich kenne ich auch mindestens ebenso viele Geschichten von Jungen und Männern.

Jedoch werden bis heute etwa siebenmal mehr Jungen als Mädchen mit ADHS diagnostiziert – und erhalten so auch die passende Hilfe und Unterstützung. Lange ging man davon aus, dass Jungen einfach anfälliger sind, ADHS bei Jungs und Männern häufiger vorkommt. Inzwischen ändert sich die Lehrmeinung: Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Mädchen ebenso häufig betroffen sind wie Jungen.

Mit diesem ersten Artikel zu ADHS war es mir deshalb besonders wichtig, auf die weibliche Form dieser neurodiversen Ausprägung aufmerksam zu machen. In zwei Wochen geht es mit der männlichen Perspektive weiter. Bis dahin freue ich mich sehr auf eure Erfahrungen, euer Feedback und eure Anmerkungen.

Eure Constance

Funktionieren und Anpassen

ADHS bei Frauen und Mädchen - der unsichtbare Tornado in der Seele

Wenn die Welt zu laut ist - Kindheit mit Asperger aus Elternsicht

Christian ist heute 34 Jahre alt, Programmierer bei einer großen Versicherung, und ein großgewachsener, attraktiver, humorvoller Mann, der Ordnung liebt und mit seiner Freundin Katharina sowie seiner Labradorhündin Connie durch den Alltag geht. Doch der Weg bis hierhin war insbesondere auch für seine Eltern kein geradliniger. Sie blickten oft auf ein Kind, das anders war – und mussten lernen, dieses Anderssein zu verstehen, auszuhalten und zu schätzen.

Frühe Jahre – ein anderes Spiel

Schon als kleiner Junge zeigte Christian, dass er die Welt nach eigenen Regeln wahrnahm. Während andere Kinder Bauklötze zu Türmen stapelten, sortierte er sie akribisch nach Farben und Größen. Wenn jemand die Ordnung störte, reagierte er heftig – mit Tränen, Wut, Rückzug.

Für seine Eltern war das verwirrend. Sie fragten sich, ob sie etwas falsch machten. Sie sahen die Begeisterung in seinen Augen, wenn er in seiner Ordnung aufging, aber auch die Hilflosigkeit, wenn er an den Erwartungen anderer zerbrach. Sie schwankten zwischen Stolz über sein frühes Wissen und Sorge, ob er jemals „normal“ mit anderen Kindern spielen könnte. „Warum spielt er nicht einfach?“, war die Frage, die sie wieder und wieder umtrieb.

Schulzeit – ein Kind mit einem großen „Aber“

In der Grundschule zeigte Christian glänzende Leistungen in Mathe. Zahlen waren für ihn wie vertraute Freunde. Doch auf dem Pausenhof blieb er oft außen vor. Regeln, die sich ständig änderten, machten ihn nervös und führten zu Wutanfällen oder Rückzug.

Einmal beobachtete ihn sein Vater vom Rand des Schulhofs: Die Kinder spielten Fangen, lachten, schrien wild durcheinander. Christian versuchte mitzuhalten, aber als die Regeln plötzlich geändert wurden, blieb er wie erstarrt stehen, die kleinen Hände zu Fäusten geballt. Sekunden später rannte er weinend ins Schulgebäude.

Seine Lehrer beschrieben ihn als „sehr begabt, aber …“. Dieses „aber“ traf die Eltern ins Herz. Sie wussten, ihr Sohn war klug und wissbegierig – doch die unausgesprochenen Zweifel, ob er seinen Platz in der Gemeinschaft finden würde, nagten an ihnen. Sie fühlten sich hin- und hergerissen: stolz auf seine Fähigkeiten und gleichzeitig traurig über die Distanz, die er zu den anderen Kindern hatte.

Die Diagnose – ein Schlüssel mit zwei Seiten

Die Diagnose „Asperger-Syndrom“ kam erst in der frühen Teenagerzeit. Für die Eltern war sie ein Wendepunkt. Endlich gab es eine Erklärung für Christians Eigenheiten – er war nicht trotzig oder schwierig, sondern sah die Welt schlicht durch eine andere Brille.

Asperger bedeutet: Menschen denken oft in klaren Strukturen, nehmen Details intensiver wahr, haben besondere Begabungen. Gleichzeitig sind Körpersprache, Ironie oder soziale Regeln für sie schwerer verständlich.

Für seine Eltern war die Diagnose zugleich Erleichterung und Herausforderung. Erleichterung, weil sie nun verstanden, dass Christian nicht „absichtlich anders“ war. Herausforderung, weil ihnen klar wurde: Der Weg ihres Sohnes würde kein einfacher werden.

Zuhause – Nähe auf ungewohnten Wegen

Christian war ein liebevolles Kind, aber seine Zuneigung zeigte er nicht immer so, wie andere Kinder es tun. Spontane Umarmungen mochte er nicht, doch sein Abendritual musste perfekt sein: die Decke exakt über den Schultern, Mund und Nase frei. Gutenachtkuss auf die Stirn, genau in die Mitte. Der Rollladen musste immer ganz unten sein, und neben der Tür brannte ein kleines Licht. Christians Mama lächelt bis heute liebevoll, wenn Katharina sich bei ihr beschwert, dass Christian nur schläft, wenn der Rollladen ganz unten ist.

Für seine Eltern war es manchmal schmerzhaft, dass Christian körperliche Nähe mied. Sie fragten sich, ob er ihre Liebe überhaupt spürte. Doch dann erklärte er ihnen mit leuchtenden Augen die Unterschiede zwischen Dinosauriern aus Jura und Trias – und sie verstanden: Das war seine Form von Zuwendung. Er ließ sie teilhaben an dem, was ihm wichtig war.

Pubertät – die Zeit der Sorgen

In der Jugend wurde der Abstand zu Gleichaltrigen deutlicher. Während andere Teenager Partys, Cliquen und erste Lieben entdeckten, vertiefte sich Christian in Programmiersprachen. „Willst du dich nicht mit anderen treffen?“ – er schüttelte wieder und wieder den Kopf.

Für seine Eltern war es schmerzhaft, ihn abends allein am Schreibtisch sitzen zu sehen, während draußen das Leben pulsierte. Sie sahen, wie sehr er litt, wenn er ausgeschlossen wurde, und konnten doch die Brücke nicht für ihn bauen. Ihre Sorge war groß: Würde er je Freunde finden? Würde er glücklich sein? Es waren Momente, in denen sie sich ohnmächtig fühlten. Sie konnten seine Welt nicht einfacher machen, so sehr sie es auch wollten.

Heute – Stolz und Dankbarkeit

Heute sehen seine Eltern ihren Sohn mit Stolz. Seine Detailtreue und Beharrlichkeit, die ihn als Kind isolierten, sind in seinem Beruf Stärken. Seine Eigenheiten sind kein Hindernis mehr, sondern Teil seiner Identität. Sie sehen Christian glücklich – mit Katharina, seiner Hündin Connie, seinem wohlstrukturierten Leben.

Für die Eltern bedeutet das Rückschau und Versöhnung: Sie haben gelernt, dass Asperger keine Krankheit ist, sondern eine andere Art, die Welt wahrzunehmen. Sie haben verstanden, dass Routinen kein Zwang, sondern ein Halt sind. Und dass Liebe nicht immer laut und offensichtlich daherkommt – manchmal ist sie ein Fachvortrag über Eisenbahnen oder ein stilles gemeinsames Abendessen.

Ein Wunsch an andere Eltern

Für andere Familien, die ein „anders tickendes“ Kind haben, wünschen sich Christians Eltern vor allem eines: Geduld. Nicht die ständige Frage „Warum bist du nicht wie die anderen?“, sondern die offene Haltung: „Wie fühlst du dich wohl?“ Denn genau das ist es, was sie im Rückblick gelernt haben: Kinder wie Christian brauchen keine Anpassung an die Norm, sondern Verständnis, dass ihr Anderssein ein Teil ihrer Einzigartigkeit ist.

Wie immer freue ich mich auf euer Feedback, eure Anmerkungen und Fragen zum Thema.

Eure Constance

Ordnung und Struktur - Struktur und Ordnung

Ein Leben mit Bauplan