Masking

ADHS bei Frauen: Wenn das Funktionieren zur Krankheit wird

Ein Zusammenbruch, der alles veränderte

Als Mira an einem Montagmorgen im März die Tür ihres Ateliers hinter sich schloss, hatte sie nicht geplant, zusammenzubrechen. Sie wollte nur kurz Luft holen. Ein paar Schritte gehen, vielleicht einen Kaffee holen, den Kopf freibekommen. Doch ihre Beine trugen sie nicht mehr. Stattdessen fand sie sich auf dem kalten Pflaster sitzend wieder – zitternd, weinend, unfähig zu verstehen, was gerade geschah.

Zwei Tage später lag sie in einem weißen Bett auf der geschlossenen Station einer psychiatrischen Klinik. Die Diagnose: schwere depressive Episode mit suizidalen Gedanken. Die eigentliche Erkenntnis über ihren Zustand kam jedoch erst Wochen später – in Form von vier Buchstaben, die ihr Leben rückblickend in völlig neuem Licht erscheinen ließen: ADHS.

Ein Leben voller Ideen – und innerer Erschöpfung

Mira war 35, als sie zum ersten Mal von einer Ärztin hörte, dass sie wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang mit einem Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom gelebt hatte – ohne es zu wissen.

„Sie sind nicht faul. Nicht undiszipliniert. Sie sind erschöpft, weil Sie seit Jahrzehnten kompensieren“, sagte die Ärztin leise, als Mira vor ihr saß, Tränen in den Augen.

Mira war Grafikdesignerin – talentiert, kreativ, erfolgreich. Ihre Kund:innen liebten ihre Ideen, ihre Energie, ihr Gespür für Ästhetik. Doch hinter der glänzenden Oberfläche tobte ein anderes Leben – eines aus Chaos, Überforderung und ständiger Selbstkritik.

Sie konnte Nächte durcharbeiten, weil sie im „Hyperfokus“ versank, und tagelang keine Mails beantworten, weil schon das Öffnen des Postfachs Panik auslöste. Termine vergaß sie, obwohl sie akribisch Listen führte. Rechnungen lagen halbfertig in Entwürfen, weil sie sich nicht überwinden konnte, sie fertigzustellen.

Von außen sah man nur: Mira, die Kreative. Mira, die Sprunghafte. Mira, die Unzuverlässige – aber auch Mira, die immer wieder irgendwie „liefert“. Die liebenswerte, herzenswarme Mira.

Drinnen jedoch wuchs der Druck – immer stärker, immer leiser.

Das Masking-Phänomen – Wenn Frauen funktionieren, bis sie es nicht mehr können

Viele Frauen mit ADHS werden oft spät oder gar nicht diagnostiziert. Das liegt nicht an mangelnder Aufmerksamkeit oder fehlender Hilfe, sondern an gesellschaftlichen Erwartungen an Mädchen, sich anzupassen, nicht aufzufallen – und daran, wie ADHS sich bei Frauen häufig anders zeigt als bei Männern. Während bei Jungen die Hyperaktivität auffällt – das Zappeln, das Stören, das „Nicht-still-sitzen-Können“ – zeigt sich ADHS bei Mädchen oft verdeckter: als innere Unruhe, Perfektionismus, emotionale Überflutung. Viele entwickeln früh Strategien, um nicht aufzufallen. Sie funktionieren. Sie gleichen aus. Sie „machen“ – und genau dieses permanente „Machen“ wird später zum Verhängnis. Psycholog:innen sprechen hier vom sogenannten „Masking-Phänomen“: Frauen mit unerkannter ADHS bauen sich über Jahre aufwendige Strukturen, Routinen und Masken, um nicht aufzufallen. Sie übernehmen Verantwortung, organisieren, überkompensieren. Bis der Akku leer ist – und die Fassade bricht.

Bei Mira geschah das schleichend. Erst waren es kleine Dinge: vergessene Deadlines, ständige Müdigkeit, Reizbarkeit. Dann kamen die Selbstzweifel: Warum schaffe ich nicht, was andere scheinbar mühelos hinbekommen? Schließlich folgten die Nächte, in denen sie starr im Bett lag und sich fragte, ob das alles noch Sinn ergibt.

Wenn die Komorbiditäten übernehmen

ADHS kommt selten allein. Vor allem bei spät diagnostizierten Menschen sind Komorbiditäten – also begleitende psychische Erkrankungen – eher die Regel als die Ausnahme.

Mira litt unter einer Depression, die immer wieder aufflammte, wenn der Druck zu groß wurde. Dazu kam eine heimliche Alkoholsucht, die sie sich lange nicht eingestehen wollte. Abends, nach stundenlangen Projekten und überreizten Tagen, war das Glas Wein die einzige Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen. Dann zwei. Dann drei.

„Ich wollte nur das Chaos im Kopf leiser machen“, sagte sie später.

Diese selbstmedikative Suche nach Entlastung ist bei ADHS-Betroffenen weit verbreitet – und gefährlich. Der Mangel an Dopamin, der das Belohnungssystem im Gehirn beeinflusst, führt oft dazu, dass Betroffene nach schnellen Reizen oder Entspannung durch Substanzen suchen: Alkohol, Nikotin, Essen, Arbeit, Sex, Social Media.

In Miras Fall wurde der Alkohol zum Symptom einer tieferen Not – eines Lebens, das permanent zu viel forderte und gleichzeitig zu wenig Verständnis bekam.

Der Zusammenbruch – und der Anfang eines neuen Lebens

Der Zusammenbruch im März war kein Ergebnis einer besonders anstrengenden Phase, sondern das Ende einer langen Entwicklung. Mira hatte seit Monaten nicht mehr richtig geschlafen, viel zu wenig gegessen, kaum noch gearbeitet. Die Depression war zur Leere geworden, der Alkohol zum stummen Begleiter.

Als sie schließlich auf der Station ankam, fühlte sie nur Erleichterung: Endlich nichts mehr müssen.

Die Diagnose ADHS kam erst nach mehreren Wochen.

Eine junge Psychotherapeutin hatte aufmerksam zugehört, als Mira von ihrer Schulzeit erzählte – von Lehrerkommentaren („Sie ist so begabt, aber sie könnte sich mehr anstrengen“), von verlegten Schlüsseln, chaotischen Schreibtischen, impulsiven Entscheidungen, die ihr Leben immer wieder in neue Bahnen lenkten.

Ein Test, ein ausführliches Gespräch – und schließlich die Erkenntnis: Das, was Mira ihr Leben lang für persönliches Versagen gehalten hatte, war Teil ihres neurobiologischen Musters.

Selbstverständnis statt Selbstvorwurf

Die Wochen nach der Diagnose waren ambivalent: Erleichterung – endlich eine Erklärung. Aber auch Trauer – über all die Jahre, die sie damit verbracht hatte, sich falsch zu fühlen.

Sie begann, über ihr Leben nachzudenken: Wie viel Kraft sie darauf verwendet hatte, „normal“ zu wirken. Wie viele Beziehungen darunter gelitten hatten, dass sie ständig zwischen Überforderung und Rückzug pendelte. Wie oft sie sich selbst als faul, unkonzentriert, chaotisch beschimpft hatte.

Heute, zwei Jahre später, spricht Mira offen über ihre Diagnose. Sie nimmt Medikamente, hat ihre Trinkgewohnheiten aufgegeben, geht regelmäßig in Therapie. Sie arbeitet wieder – langsamer, bewusster, ehrlicher.

„Ich weiß jetzt, dass mein Gehirn einfach anders funktioniert“, sagt sie. „Nicht schlechter – anders. Ich brauche andere Strukturen, mehr Pausen, weniger Schuldgefühle.“

Warum Aufklärung über ADHS bei Frauen so wichtig ist

Miras Geschichte steht für viele. Die Zahl der Frauen, die erst im Erwachsenenalter – oft nach Krisen, Zusammenbrüchen oder Burnouts – die Diagnose ADHS erhalten, steigt stetig. Diese späte Erkenntnis ist einerseits befreiend, andererseits erschütternd. Denn sie zeigt, wie sehr das gesellschaftliche Bild von „angepassten, leistungsfähigen“ Frauen dazu beiträgt, dass neurodivergente Lebensweisen übersehen werden.

ADHS bei Frauen bedeutet nicht immer Hyperaktivität. Es bedeutet häufig emotionale Intensität, Reizüberflutung, chronische Erschöpfung, innere Zerrissenheit – und den ständigen Versuch, es trotzdem allen recht zu machen.

Je mehr darüber gesprochen wird, desto eher kann Leid verhindert werden. Denn das eigentliche Problem ist nicht die neurobiologische Andersartigkeit, sondern das Unverständnis einer Umwelt, die Anpassung verlangt, wo Akzeptanz nötig wäre.

Ein neuer Blick

Mira hat gelernt, sich selbst anders zu sehen. Nicht als defekt, sondern als Mensch mit einem besonderen Nervensystem, das Sensibilität, Kreativität und Energie mit sich bringt – aber auch Verletzlichkeit.

Sie sagt heute: „Ich bin nicht geheilt. Ich bin verstanden. Und das ist der Unterschied, der mich leben lässt.“

Miras Geschichte ist ein Aufruf – zum Hinschauen, zum Verstehen, zum Anerkennen, dass viele Frauen mit ADHS jahrzehntelang kämpfen, ohne zu wissen, wogegen. Und sie erinnert daran, dass Heilung oft dann beginnt, wenn das eigene Leben endlich Sinn ergibt.

Ich selbst durfte viele wunderbare Frauen mit ADHS kennenlernen, die zum Teil lange Wege bis zur Diagnose und zum Verstehen gegangen sind. Ich durfte Mädchen kennenlernen, die schon als Kinder lernen durften, mit ihrer Einzigartigkeit umzugehen. Und natürlich kenne ich auch mindestens ebenso viele Geschichten von Jungen und Männern.

Jedoch werden bis heute etwa siebenmal mehr Jungen als Mädchen mit ADHS diagnostiziert – und erhalten so auch die passende Hilfe und Unterstützung. Lange ging man davon aus, dass Jungen einfach anfälliger sind, ADHS bei Jungs und Männern häufiger vorkommt. Inzwischen ändert sich die Lehrmeinung: Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Mädchen ebenso häufig betroffen sind wie Jungen.

Mit diesem ersten Artikel zu ADHS war es mir deshalb besonders wichtig, auf die weibliche Form dieser neurodiversen Ausprägung aufmerksam zu machen. In zwei Wochen geht es mit der männlichen Perspektive weiter. Bis dahin freue ich mich sehr auf eure Erfahrungen, euer Feedback und eure Anmerkungen.

Eure Constance

Funktionieren und Anpassen

ADHS bei Frauen und Mädchen - der unsichtbare Tornado in der Seele