Ritalin

"Elias, so wie du bist!" - Die Geschichte von Jana und Mark und ihrem Sohn mit ADHS

Damals und heute

Wenn Jana heute alte Bilder von Elias aus dem Kindergarten anschaut, lächelt sie. Ein kleiner Junge mit strahlenden Augen, immer in Bewegung, immer mit etwas beschäftigt, das eigentlich gar nicht die Aufgabe war. Und doch war da schon damals viel mehr: eine Wärme, ein feiner Humor, eine unverwechselbare Art, die Welt zu sehen. Damals ahnten Jana und Mark noch nicht, wie sehr dieser Junge ihr Leben verändern würde. Sie wussten nur: Elias war anders. Und sie wussten ebenso: Er ist ihr Sohn. Und sie lieben ihn – ganz und gar.

Das Gefühl, dass etwas nicht „passt“

Elias war von Anfang an ein lebhafter Junge. Schon als Kleinkind krabbelte er früher als andere, lief dafür später. Er lachte laut und unverhohlen, weinte aber genauso heftig.

Jana erinnert sich an die ersten Elternabende im Kindergarten. Da saßen Eltern, die von Bastelergebnissen ihrer Kinder erzählten. Von Malmappen voller bunter, akribisch ausgemalter Bilder. „Elias hat das Haus nicht ausgemalt“, hatte die Erzieherin einmal gesagt und Jana vorsichtig ein Blatt hingehalten: ein paar Striche, darüber ein wilder Strudel aus Farben.

Anderen Eltern hätte dieses Bild vielleicht als Desinteresse gegolten – Jana sah darin Energie. Welt. Gefühl. Die Erzieherin wohl nicht …

Und trotzdem: Da war etwas, das sie nicht einordnen konnten. Während die anderen Kinder saßen und aufmerksam zuhörten, rutschte Elias vom Stuhl, kletterte unter den Tisch, fing Gespräche an – mitten im Morgenkreis. Er störte nicht mit Absicht. Er war einfach. Einfach Elias.

Mark versuchte es pragmatisch zu sehen. „Kinder sind verschieden“, sagte er. „Er wächst da rein.“ Jana hoffte das auch. Doch mit jedem Kita-Jahr wuchs der Druck. Nicht, weil Elias „schlimm“ war. Sondern weil die Welt eine gewisse Form von Funktion erwartete – und Elias sich nicht in diese Form legen ließ.

Zwischen Liebe und Erschöpfung

Es gibt Sätze, die brennen sich ein.

„Wir schaffen es nicht mehr, Elias in der Gruppe zu halten.“

„Er braucht so viel Aufmerksamkeit.“

„Vielleicht sollten Sie das mal abklären lassen.“

Jana hat diesen Moment vor Augen, als wäre er gestern gewesen. Sie saß auf einem kleinen Holzstuhl im Gruppenraum, auf dem Teppich lagen Bauklötze und eine noch nicht ganz fertige Ritterburg. Elias drehte Kreise um sie herum – im wahrsten Sinne des Wortes. Sie fühlte sich wie eine schlechte Mutter. Als hätte sie versagt. Als müsse sie Elias erklären, rechtfertigen, verteidigen.

Mark nahm sie in den Arm, wenn die Tage besonders schwer waren. Aber auch er war müde. Müde von Gesprächen mit Erzieher:innen. Müde vom ständigen „Bitte konzentrier dich.“ Müde vom Gefühl, dass niemand wirklich sah, wie liebevoll, sensibel und einzigartig ihr Sohn war. Denn das war er: liebevoll. Wenn Jana traurig war, merkte er es sofort. Wenn Mark abends erschöpft nach Hause kam, setzte sich Elias ganz selbstverständlich zu ihm und legte seine Hand auf sein Knie.

Er fühlte alles – nur die Welt wusste nicht, wie man mit einem Kind umgeht, das so viel fühlt.

Der Weg zur Diagnose

Als Elias acht war, begann die Grundschule. Und damit wurde alles noch deutlicher. Hausaufgaben dauerten Stunden, wenn sie überhaupt gelangen. Sitzenbleiben am Tisch war nahezu unmöglich. Das Heft war voller Fehler, aber Elias konnte erklären, wie die Aufgabe zu lösen wäre – nur die Umsetzung stolperte über sein eigenes rasendes Denken. Die Klassenlehrerin schlug eine Diagnostik vor. Nicht hart, nicht vorwurfsvoll – sondern ehrlich, offen, mitfühlend. Das war neu. Und wichtig.

Die Untersuchungen dauerten Monate. Es gab Fragebögen, Tests, Gespräche. Dann saßen Jana und Mark in einem kleinen Raum. Der Arzt sprach ruhig: „Ihr Sohn hat ADHS. Das ist keine Schuld, keine Erziehungsfrage. Es ist eine Art, wie sein Gehirn Reize verarbeitet.“ Jana atmete zum ersten Mal seit Jahren anders. Nicht leichter, aber klarer. Sie hatte nicht versagt. Elias war nicht „falsch“. Er war anders verdrahtet. Mark nickte, still. Er hatte Tränen in den Augen. Manchmal ist eine Diagnose keine Last, sondern eine Entlastung.

Die Entscheidung für Medikamente

Und dann kam die nächste Entscheidung. Ein schwieriger Schritt. Medikamente. Ritalin. Es war keine schnelle Entscheidung. Es war ein Ringen. Nächte voller Gespräche zu zweit in der Küche. Stunden im Internet, in Foren – zwischen Hoffnung und Angst. Die Vorstellung, einem Kind Medikamente zu geben, fühlt sich im ersten Moment wie ein Verrat an. Doch die Frage wurde irgendwann sehr klar: Wird Elias damit mehr Freiheit haben? Mehr Raum für sich? Mehr Möglichkeit, seine Fähigkeiten zu entfalten?

Sie probierten es. Langsam, vorsichtig, begleitet von Ärzt:innen. Und dann passierte etwas, das sich nicht wie „Verändern“ anfühlte – sondern wie „Entlasten“. Elias konnte plötzlich sitzenbleiben, lange genug, um sein Eisenbahnmodell fertigzubauen. Er konnte in der Schule zuhören, ohne innerlich zu überrennen. Er lachte weiterhin laut, er spielte weiterhin wild – aber es wirkte, als hätte jemand die Welt ein kleines Stück leiser gemacht. Nicht er wurde leiser. Die Welt um ihn herum wurde nur weniger laut.

Leben mit ADHS: Sorgen, Liebe, Zukunft

Heute ist Elias 14. Ein Teenager voller Ideen, Witz und einer Fantasie, die manchmal größer scheint als die Welt selbst. Er liebt Musik, baut komplexe Welten in Computerspielen, erklärt seinen Eltern Theorien, die er irgendwo zwischen YouTube, Physikunterricht und Sternenbeobachtung gesammelt hat. Er ist immer noch schnell. Er ist immer noch intensiv. Er ist immer noch Elias. Und Jana und Mark machen sich immer noch Sorgen. Wie wird die Pubertät sein? Wie wird er sich in einer Welt zurechtfinden, die oft Menschen bevorzugt, die linear denken, planvoll, leise?

Aber sie haben etwas gelernt: Elias muss nicht „funktionieren“, um richtig zu sein. Er muss leben dürfen. Er muss gesehen werden. Er muss geliebt werden – und das wird er.

Was man manchmal vergisst: ADHS ist keine Störung im Herzen. Keine Störung im Charakter. Keine Störung der Liebe. Es ist eine andere Art, die Welt zu fühlen, zu denken, zu reagieren. Und Elias ist nicht weniger. Er ist nicht zu viel. Er ist nicht falsch. Er ist ihr Sohn. Und in ihren Augen ist er perfekt.

Wenn Jana Elias abends ins Zimmer sieht, während er mit Kopfhörern Musik hört und gedankenverloren Skizzen zeichnet, lächelt sie. Sie weiß: Der Weg war nicht leicht. Und er wird weiterhin Kurven haben.

Aber sie weiß auch: Sie gehen diesen Weg zusammen.

Mit Liebe.

Mit Geduld.

Mit Hoffnung.

Und mit Elias.

So, wie er ist.

Zahlen, Daten, Fakten

Inzwischen wird ADHS nicht mehr zu den psychischen Störungsbildern gezählt, sondern als besondere neurobiologische Ausprägung eingeordnet, die wir heute unter dem Überbegriff der Neurodiversität subsummieren.

Ursächlich ist nach aktuellem Stand der Forschung eine Abweichung (wichtig: keine krankhafte Abweichung) in der Regulation des Hirnnetzwerks im präfrontalen Cortex. Die Veranlagung ist zu 60 bis 80 Prozent erblich.

Betroffen sind bis zu sieben Prozent aller Kinder und Jugendlichen weltweit, wobei man inzwischen von einer nicht unerheblichen Dunkelziffer insbesondere bei Mädchen ausgeht, da diese ausgeprägte Strategien entwickeln können, um die Symptome zu maskieren.

Aktuell werden etwa viermal mehr Jungen als Mädchen diagnostiziert. Die neueste Forschung geht jedoch davon aus, dass ebenso viele Mädchen mit ADHS leben.

Typische Symptome sind:

  • Unaufmerksamkeit (Vergesslichkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Ablenkbarkeit, Gedankenspringen)

  • Hyperaktivität (innere Unruhe, Bewegungsdrang und bei Erwachsenen häufig nach außen nicht sichtbarer innerer Druck)

  • Impulsivität (mangelnde Impulskontrolle)

Die Behandlung fußt im Idealfall auf drei Säulen:

  • Medikamente (Ritalin bzw. Methylphenidat ist hierbei das bekannteste, jedoch nicht das einzige Medikament)

  • Psychotherapie (vor allem verhaltenstherapeutische Ansätze)

  • Strukturhilfen bzw. Coaching (insbesondere im Erwachsenenalter)

In einigen, jedoch nicht allen Fällen lässt die Symptomatik bis zum Erwachsenenalter nach.

Insbesondere bei fehlender Diagnose besteht eine hohe Komorbidität zu psychischen Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen, Suchterkrankungen, Essstörungen sowie Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Und zum Abschluss noch ein Fun Fact: Viele Menschen mit ADHS haben eine hohe Kreativität, Innovationsfähigkeit und eine herausragende Problemlösungsflexibilität – wenn sie passende Umgebungen und Strukturen vorfinden.

Und wieder wird deutlich: Das Problem ist nicht der Mensch – sondern das Umfeld.

Ich freue mich wie immer über Feedback, Fragen und Anmerkungen zum Thema.

Eure Constance

Gemeinsam - mit Liebe und Akzeptanz