Autismus Spektrum Störung

Christian, Connie und das kleine Chaos - Ein Leben mit Asperger

Eigentlich alles ganz normal…

Wenn man Christian zum ersten Mal begegnet, fällt einem vermutlich zuerst sein Lächeln auf – etwas schief, aber echt. Der 34-Jährige arbeitet als Programmierer bei einer großen Versicherung, und während die meisten seiner Kolleg:innen ihre Tage mit endlosen Meetings verbringen, ist Christian glücklich, wenn er tief in Codezeilen versinken darf. Logik ist seine Sprache, Klarheit seine Komfortzone. Doch wie das Leben so spielt, hört es nicht an der Bürotür auf – und dort beginnt die eigentliche Geschichte.

Struktur ist kein Zwang, sondern ein Rettungsanker

Für Christian ist der Alltag wie ein Fluss, der gern mal in wilden Stromschnellen ausbricht. Sein Asperger-Syndrom macht ihn besonders sensibel für Reize: zu viel Lärm, zu viele Informationen, zu viele unausgesprochene Erwartungen. Struktur ist deshalb sein wichtigster Halt.

Der Tag beginnt immer gleich: um 6:30 Uhr klingelt der Wecker, um 6:35 Uhr steht er auf. Punkt. Connie, seine schwarze Labradorhündin, wartet dann schon schwanzwedelnd. Gemeinsam drehen sie ihre erste Runde durch den Park – immer dieselbe Strecke, immer dieselbe Länge. Für Christian ist das kein langweiliges Ritual, sondern ein Sicherheitsnetz, das ihm Ruhe gibt.

„Andere nennen es Gewohnheit, für mich ist es ein Schutzschild“, sagt er, wenn man ihn darauf anspricht.

Programmieren: Wenn die Welt endlich Sinn ergibt

Im Büro blüht Christian auf. Während Kolleg:innen über Kaffeemaschinenpolitik diskutieren („Wer hat schon wieder den Milchaufschäumer nicht sauber gemacht?“), sitzt er konzentriert vor dem Bildschirm. Code ist für ihn kein Chaos, sondern Musik. Jede Zeile hat eine Funktion, jeder Fehler eine Ursache. Keine unausgesprochenen Erwartungen, keine Doppeldeutigkeiten – alles klar, präzise, logisch.

Doch die größte Herausforderung im Job sind nicht die komplexen Programme, sondern die Kaffeepausen. Smalltalk fühlt sich für Christian an wie ein schlecht dokumentierter Code: voller Lücken und Missverständnisse. Wenn jemand sagt: „Lass uns das mal locker angehen“, fragt er sich ernsthaft: Wie locker ist locker? Ein bisschen? Sehr? Oder gar nicht?

Seine Kollegin Katharina, die inzwischen seine Freundin ist, hat eine besondere Rolle übernommen. Sie übersetzt die soziale Welt für ihn. „Locker heißt: Wir haben Zeit, also kein Stress“, erklärt sie dann mit einem Lächeln. Für Christian ist diese Klarheit Gold wert.

Liebe mit Bedienungsanleitung – oder doch ohne?

Dass ausgerechnet Katharina, seine Kollegin, sein Herz erobern würde, hat Christian selbst überrascht. Beziehungen sind für ihn ein Minenfeld: Nähe, Erwartungen, unausgesprochene Signale. Doch Katharina bringt Geduld und Humor mit – und Connie, die Labradorhündin, hat ihr sofort das Gütesiegel „vertrauenswürdig“ verliehen.

Natürlich gibt es Spannungsfelder. Katharina liebt spontane Ausflüge, Christian plant am liebsten Wochen im Voraus. Während sie schwärmt: „Lass uns doch einfach mal morgen ans Meer fahren!“, zieht sich in Christians Kopf ein ganzes Netz an Warnsignalen zusammen. Morgen? Aber der Hund? Aber die Wäsche? Aber die Autobahnausfahrten!

Oft ist es dann Connie, die vermittelt. Sie stupst Christian an, als wolle sie sagen: „Komm, ein bisschen Chaos geht schon.“ Und Christian versucht es tatsächlich: kleine Schritte in eine spontane Welt, mit Katharina an seiner Seite.

Humor als Kompass

Das Asperger-Syndrom bringt viele Herausforderungen mit sich, aber auch besondere Momente. Christian hat eine Fähigkeit, Dinge radikal wörtlich zu nehmen – was manchmal unfreiwillig komisch wird.

Als Katharina neulich sagte: „Christian, wir müssen den Gürtel enger schnallen“, überlegte er ernsthaft, warum sie über ihre Kleidung spricht, obwohl sie doch über das Haushaltsbudget reden wollte. „Ich hab den Gürtel schon im letzten Loch“, antwortete er trocken. Katharina lachte Tränen, und auch Christian musste schmunzeln, als der Groschen fiel.

Dieser Humor, manchmal schräg, manchmal unbeabsichtigt, ist zu einem ihrer wichtigsten Begleiter geworden. Er bricht Spannungen auf, macht Missverständnisse leichter und schenkt Leichtigkeit in Situationen, die sonst schwer sein könnten.

Inseln der Ruhe

Christian weiß, was ihm hilft: Rituale, klare Kommunikation, ehrliches Feedback. Wenn er überreizt ist, zieht er sich zurück – Connie legt sich dann schützend neben ihn. Spaziergänge im Grünen sind für ihn wie Reset-Knöpfe.

Doch er hat auch gelernt, dass er nicht alles alleine schaffen muss. Katharina, seine Familie und inzwischen sogar ein kleiner Freundeskreis sind seine Anker. Und obwohl das Navigieren zwischen Logik und Emotion für ihn oft ein Drahtseilakt ist, zeigt Christian, dass man kein „typisches“ Leben führen muss, um erfüllt zu sein.

Ein Fazit mit Augenzwinkern

Asperger ist kein Mangel, sondern eine andere Art, die Welt zu sehen. Für Christian bedeutet es: Er liest lieber Quellcode als Gesichtsausdrücke, er liebt klare Strukturen und stolpert manchmal über Metaphern. Aber er liebt auch – mit ganzem Herzen.

Und vielleicht ist genau das die Essenz: Dass ein Labrador, eine Kollegin und ein Haufen Code genügen, um ein Leben reich zu machen.

Oder, wie Christian es formulieren würde: „Glück ist, wenn der Code kompiliert, Connie neben mir liegt – und Katharina trotzdem bleibt.“

Zahlen, Daten, Fakten

In Deutschland lebt etwa ein Prozent der Bevölkerung mit einer Autismus-Spektrum-Störung. Der Anteil von Asperger liegt hierbei bei 10 bis 30 Prozent. Lange Zeit ging man davon aus, dass etwa viermal so viele Männer wie Frauen betroffen sind. Neuere Forschungen zeigen, dass – ähnlich wie bei ADHS – Frauen und Mädchen schlicht und ergreifend unterdiagnostiziert sind, da sie oft stärkere Kompensationsstrategien („Masking“ genannt) entwickeln und somit insbesondere in sozialen Situationen „unauffälliger“ sind. Heute geht man eher von einer Mann-Frau-Quote von zwei bis drei zu eins aus. Einige Fachleute vermuten sogar, dass es fast ausgeglichen ist.

Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass jede:r von uns irgendwann in seinem Leben Kontakt mit einem Menschen mit Asperger hat, ist groß. Hierbei liegt es an uns, diese Form der Neurodiversität als Bereicherung und Chance zu sehen. Viel zu oft erlebe ich an dieser Stelle Unsicherheit, manchmal sogar Ablehnung, die zumeist aus Unwissen resultiert. Dabei ist es so spannend, in die Welt eines Asperger-Autisten eintauchen zu dürfen. In meiner Rolle als (Business) Coach hatte ich bislang schon dreimal die Ehre, zu Gast in dieser Welt sein zu dürfen. Christian steht in diesem Artikel sinnbildlich für diese drei wunderbaren Menschen.

Wie immer bin ich ausgesprochen neugierig auf eure Erfahrungen mit dem Thema. Oder vielleicht habt ihr ja auch Fragen, die ich natürlich bestmöglich zu beantworten versuche. Mein kleiner Ausflug in die Welt des Asperger ist hiermit nämlich noch nicht beendet. In zwei Wochen werde ich Christians Eltern berichten lassen, wie Christians Kindheit verlaufen ist: der lange Weg hin zur Diagnose und die Phasen des Nichtverstehens, insbesondere in der Kindergarten- und Grundschulzeit.

Ich freue mich, wenn ihr dabei bleibt.

Eure Constance

Leben im Code

Struktur und Ordnung, berechenbar und klar.