Autismus

Wenn die Welt zu laut ist - Kindheit mit Asperger aus Elternsicht

Christian ist heute 34 Jahre alt, Programmierer bei einer großen Versicherung, und ein großgewachsener, attraktiver, humorvoller Mann, der Ordnung liebt und mit seiner Freundin Katharina sowie seiner Labradorhündin Connie durch den Alltag geht. Doch der Weg bis hierhin war insbesondere auch für seine Eltern kein geradliniger. Sie blickten oft auf ein Kind, das anders war – und mussten lernen, dieses Anderssein zu verstehen, auszuhalten und zu schätzen.

Frühe Jahre – ein anderes Spiel

Schon als kleiner Junge zeigte Christian, dass er die Welt nach eigenen Regeln wahrnahm. Während andere Kinder Bauklötze zu Türmen stapelten, sortierte er sie akribisch nach Farben und Größen. Wenn jemand die Ordnung störte, reagierte er heftig – mit Tränen, Wut, Rückzug.

Für seine Eltern war das verwirrend. Sie fragten sich, ob sie etwas falsch machten. Sie sahen die Begeisterung in seinen Augen, wenn er in seiner Ordnung aufging, aber auch die Hilflosigkeit, wenn er an den Erwartungen anderer zerbrach. Sie schwankten zwischen Stolz über sein frühes Wissen und Sorge, ob er jemals „normal“ mit anderen Kindern spielen könnte. „Warum spielt er nicht einfach?“, war die Frage, die sie wieder und wieder umtrieb.

Schulzeit – ein Kind mit einem großen „Aber“

In der Grundschule zeigte Christian glänzende Leistungen in Mathe. Zahlen waren für ihn wie vertraute Freunde. Doch auf dem Pausenhof blieb er oft außen vor. Regeln, die sich ständig änderten, machten ihn nervös und führten zu Wutanfällen oder Rückzug.

Einmal beobachtete ihn sein Vater vom Rand des Schulhofs: Die Kinder spielten Fangen, lachten, schrien wild durcheinander. Christian versuchte mitzuhalten, aber als die Regeln plötzlich geändert wurden, blieb er wie erstarrt stehen, die kleinen Hände zu Fäusten geballt. Sekunden später rannte er weinend ins Schulgebäude.

Seine Lehrer beschrieben ihn als „sehr begabt, aber …“. Dieses „aber“ traf die Eltern ins Herz. Sie wussten, ihr Sohn war klug und wissbegierig – doch die unausgesprochenen Zweifel, ob er seinen Platz in der Gemeinschaft finden würde, nagten an ihnen. Sie fühlten sich hin- und hergerissen: stolz auf seine Fähigkeiten und gleichzeitig traurig über die Distanz, die er zu den anderen Kindern hatte.

Die Diagnose – ein Schlüssel mit zwei Seiten

Die Diagnose „Asperger-Syndrom“ kam erst in der frühen Teenagerzeit. Für die Eltern war sie ein Wendepunkt. Endlich gab es eine Erklärung für Christians Eigenheiten – er war nicht trotzig oder schwierig, sondern sah die Welt schlicht durch eine andere Brille.

Asperger bedeutet: Menschen denken oft in klaren Strukturen, nehmen Details intensiver wahr, haben besondere Begabungen. Gleichzeitig sind Körpersprache, Ironie oder soziale Regeln für sie schwerer verständlich.

Für seine Eltern war die Diagnose zugleich Erleichterung und Herausforderung. Erleichterung, weil sie nun verstanden, dass Christian nicht „absichtlich anders“ war. Herausforderung, weil ihnen klar wurde: Der Weg ihres Sohnes würde kein einfacher werden.

Zuhause – Nähe auf ungewohnten Wegen

Christian war ein liebevolles Kind, aber seine Zuneigung zeigte er nicht immer so, wie andere Kinder es tun. Spontane Umarmungen mochte er nicht, doch sein Abendritual musste perfekt sein: die Decke exakt über den Schultern, Mund und Nase frei. Gutenachtkuss auf die Stirn, genau in die Mitte. Der Rollladen musste immer ganz unten sein, und neben der Tür brannte ein kleines Licht. Christians Mama lächelt bis heute liebevoll, wenn Katharina sich bei ihr beschwert, dass Christian nur schläft, wenn der Rollladen ganz unten ist.

Für seine Eltern war es manchmal schmerzhaft, dass Christian körperliche Nähe mied. Sie fragten sich, ob er ihre Liebe überhaupt spürte. Doch dann erklärte er ihnen mit leuchtenden Augen die Unterschiede zwischen Dinosauriern aus Jura und Trias – und sie verstanden: Das war seine Form von Zuwendung. Er ließ sie teilhaben an dem, was ihm wichtig war.

Pubertät – die Zeit der Sorgen

In der Jugend wurde der Abstand zu Gleichaltrigen deutlicher. Während andere Teenager Partys, Cliquen und erste Lieben entdeckten, vertiefte sich Christian in Programmiersprachen. „Willst du dich nicht mit anderen treffen?“ – er schüttelte wieder und wieder den Kopf.

Für seine Eltern war es schmerzhaft, ihn abends allein am Schreibtisch sitzen zu sehen, während draußen das Leben pulsierte. Sie sahen, wie sehr er litt, wenn er ausgeschlossen wurde, und konnten doch die Brücke nicht für ihn bauen. Ihre Sorge war groß: Würde er je Freunde finden? Würde er glücklich sein? Es waren Momente, in denen sie sich ohnmächtig fühlten. Sie konnten seine Welt nicht einfacher machen, so sehr sie es auch wollten.

Heute – Stolz und Dankbarkeit

Heute sehen seine Eltern ihren Sohn mit Stolz. Seine Detailtreue und Beharrlichkeit, die ihn als Kind isolierten, sind in seinem Beruf Stärken. Seine Eigenheiten sind kein Hindernis mehr, sondern Teil seiner Identität. Sie sehen Christian glücklich – mit Katharina, seiner Hündin Connie, seinem wohlstrukturierten Leben.

Für die Eltern bedeutet das Rückschau und Versöhnung: Sie haben gelernt, dass Asperger keine Krankheit ist, sondern eine andere Art, die Welt wahrzunehmen. Sie haben verstanden, dass Routinen kein Zwang, sondern ein Halt sind. Und dass Liebe nicht immer laut und offensichtlich daherkommt – manchmal ist sie ein Fachvortrag über Eisenbahnen oder ein stilles gemeinsames Abendessen.

Ein Wunsch an andere Eltern

Für andere Familien, die ein „anders tickendes“ Kind haben, wünschen sich Christians Eltern vor allem eines: Geduld. Nicht die ständige Frage „Warum bist du nicht wie die anderen?“, sondern die offene Haltung: „Wie fühlst du dich wohl?“ Denn genau das ist es, was sie im Rückblick gelernt haben: Kinder wie Christian brauchen keine Anpassung an die Norm, sondern Verständnis, dass ihr Anderssein ein Teil ihrer Einzigartigkeit ist.

Wie immer freue ich mich auf euer Feedback, eure Anmerkungen und Fragen zum Thema.

Eure Constance

Ordnung und Struktur - Struktur und Ordnung

Ein Leben mit Bauplan

Christian, Connie und das kleine Chaos - Ein Leben mit Asperger

Eigentlich alles ganz normal…

Wenn man Christian zum ersten Mal begegnet, fällt einem vermutlich zuerst sein Lächeln auf – etwas schief, aber echt. Der 34-Jährige arbeitet als Programmierer bei einer großen Versicherung, und während die meisten seiner Kolleg:innen ihre Tage mit endlosen Meetings verbringen, ist Christian glücklich, wenn er tief in Codezeilen versinken darf. Logik ist seine Sprache, Klarheit seine Komfortzone. Doch wie das Leben so spielt, hört es nicht an der Bürotür auf – und dort beginnt die eigentliche Geschichte.

Struktur ist kein Zwang, sondern ein Rettungsanker

Für Christian ist der Alltag wie ein Fluss, der gern mal in wilden Stromschnellen ausbricht. Sein Asperger-Syndrom macht ihn besonders sensibel für Reize: zu viel Lärm, zu viele Informationen, zu viele unausgesprochene Erwartungen. Struktur ist deshalb sein wichtigster Halt.

Der Tag beginnt immer gleich: um 6:30 Uhr klingelt der Wecker, um 6:35 Uhr steht er auf. Punkt. Connie, seine schwarze Labradorhündin, wartet dann schon schwanzwedelnd. Gemeinsam drehen sie ihre erste Runde durch den Park – immer dieselbe Strecke, immer dieselbe Länge. Für Christian ist das kein langweiliges Ritual, sondern ein Sicherheitsnetz, das ihm Ruhe gibt.

„Andere nennen es Gewohnheit, für mich ist es ein Schutzschild“, sagt er, wenn man ihn darauf anspricht.

Programmieren: Wenn die Welt endlich Sinn ergibt

Im Büro blüht Christian auf. Während Kolleg:innen über Kaffeemaschinenpolitik diskutieren („Wer hat schon wieder den Milchaufschäumer nicht sauber gemacht?“), sitzt er konzentriert vor dem Bildschirm. Code ist für ihn kein Chaos, sondern Musik. Jede Zeile hat eine Funktion, jeder Fehler eine Ursache. Keine unausgesprochenen Erwartungen, keine Doppeldeutigkeiten – alles klar, präzise, logisch.

Doch die größte Herausforderung im Job sind nicht die komplexen Programme, sondern die Kaffeepausen. Smalltalk fühlt sich für Christian an wie ein schlecht dokumentierter Code: voller Lücken und Missverständnisse. Wenn jemand sagt: „Lass uns das mal locker angehen“, fragt er sich ernsthaft: Wie locker ist locker? Ein bisschen? Sehr? Oder gar nicht?

Seine Kollegin Katharina, die inzwischen seine Freundin ist, hat eine besondere Rolle übernommen. Sie übersetzt die soziale Welt für ihn. „Locker heißt: Wir haben Zeit, also kein Stress“, erklärt sie dann mit einem Lächeln. Für Christian ist diese Klarheit Gold wert.

Liebe mit Bedienungsanleitung – oder doch ohne?

Dass ausgerechnet Katharina, seine Kollegin, sein Herz erobern würde, hat Christian selbst überrascht. Beziehungen sind für ihn ein Minenfeld: Nähe, Erwartungen, unausgesprochene Signale. Doch Katharina bringt Geduld und Humor mit – und Connie, die Labradorhündin, hat ihr sofort das Gütesiegel „vertrauenswürdig“ verliehen.

Natürlich gibt es Spannungsfelder. Katharina liebt spontane Ausflüge, Christian plant am liebsten Wochen im Voraus. Während sie schwärmt: „Lass uns doch einfach mal morgen ans Meer fahren!“, zieht sich in Christians Kopf ein ganzes Netz an Warnsignalen zusammen. Morgen? Aber der Hund? Aber die Wäsche? Aber die Autobahnausfahrten!

Oft ist es dann Connie, die vermittelt. Sie stupst Christian an, als wolle sie sagen: „Komm, ein bisschen Chaos geht schon.“ Und Christian versucht es tatsächlich: kleine Schritte in eine spontane Welt, mit Katharina an seiner Seite.

Humor als Kompass

Das Asperger-Syndrom bringt viele Herausforderungen mit sich, aber auch besondere Momente. Christian hat eine Fähigkeit, Dinge radikal wörtlich zu nehmen – was manchmal unfreiwillig komisch wird.

Als Katharina neulich sagte: „Christian, wir müssen den Gürtel enger schnallen“, überlegte er ernsthaft, warum sie über ihre Kleidung spricht, obwohl sie doch über das Haushaltsbudget reden wollte. „Ich hab den Gürtel schon im letzten Loch“, antwortete er trocken. Katharina lachte Tränen, und auch Christian musste schmunzeln, als der Groschen fiel.

Dieser Humor, manchmal schräg, manchmal unbeabsichtigt, ist zu einem ihrer wichtigsten Begleiter geworden. Er bricht Spannungen auf, macht Missverständnisse leichter und schenkt Leichtigkeit in Situationen, die sonst schwer sein könnten.

Inseln der Ruhe

Christian weiß, was ihm hilft: Rituale, klare Kommunikation, ehrliches Feedback. Wenn er überreizt ist, zieht er sich zurück – Connie legt sich dann schützend neben ihn. Spaziergänge im Grünen sind für ihn wie Reset-Knöpfe.

Doch er hat auch gelernt, dass er nicht alles alleine schaffen muss. Katharina, seine Familie und inzwischen sogar ein kleiner Freundeskreis sind seine Anker. Und obwohl das Navigieren zwischen Logik und Emotion für ihn oft ein Drahtseilakt ist, zeigt Christian, dass man kein „typisches“ Leben führen muss, um erfüllt zu sein.

Ein Fazit mit Augenzwinkern

Asperger ist kein Mangel, sondern eine andere Art, die Welt zu sehen. Für Christian bedeutet es: Er liest lieber Quellcode als Gesichtsausdrücke, er liebt klare Strukturen und stolpert manchmal über Metaphern. Aber er liebt auch – mit ganzem Herzen.

Und vielleicht ist genau das die Essenz: Dass ein Labrador, eine Kollegin und ein Haufen Code genügen, um ein Leben reich zu machen.

Oder, wie Christian es formulieren würde: „Glück ist, wenn der Code kompiliert, Connie neben mir liegt – und Katharina trotzdem bleibt.“

Zahlen, Daten, Fakten

In Deutschland lebt etwa ein Prozent der Bevölkerung mit einer Autismus-Spektrum-Störung. Der Anteil von Asperger liegt hierbei bei 10 bis 30 Prozent. Lange Zeit ging man davon aus, dass etwa viermal so viele Männer wie Frauen betroffen sind. Neuere Forschungen zeigen, dass – ähnlich wie bei ADHS – Frauen und Mädchen schlicht und ergreifend unterdiagnostiziert sind, da sie oft stärkere Kompensationsstrategien („Masking“ genannt) entwickeln und somit insbesondere in sozialen Situationen „unauffälliger“ sind. Heute geht man eher von einer Mann-Frau-Quote von zwei bis drei zu eins aus. Einige Fachleute vermuten sogar, dass es fast ausgeglichen ist.

Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass jede:r von uns irgendwann in seinem Leben Kontakt mit einem Menschen mit Asperger hat, ist groß. Hierbei liegt es an uns, diese Form der Neurodiversität als Bereicherung und Chance zu sehen. Viel zu oft erlebe ich an dieser Stelle Unsicherheit, manchmal sogar Ablehnung, die zumeist aus Unwissen resultiert. Dabei ist es so spannend, in die Welt eines Asperger-Autisten eintauchen zu dürfen. In meiner Rolle als (Business) Coach hatte ich bislang schon dreimal die Ehre, zu Gast in dieser Welt sein zu dürfen. Christian steht in diesem Artikel sinnbildlich für diese drei wunderbaren Menschen.

Wie immer bin ich ausgesprochen neugierig auf eure Erfahrungen mit dem Thema. Oder vielleicht habt ihr ja auch Fragen, die ich natürlich bestmöglich zu beantworten versuche. Mein kleiner Ausflug in die Welt des Asperger ist hiermit nämlich noch nicht beendet. In zwei Wochen werde ich Christians Eltern berichten lassen, wie Christians Kindheit verlaufen ist: der lange Weg hin zur Diagnose und die Phasen des Nichtverstehens, insbesondere in der Kindergarten- und Grundschulzeit.

Ich freue mich, wenn ihr dabei bleibt.

Eure Constance

Leben im Code

Struktur und Ordnung, berechenbar und klar.